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Die Erziehung der Peergroup

Was tun, wenn Kinder in einen negativen Freundeskreis geraten? Verbote helfen nicht. Gespräche schon. Und in Kontakt bleiben. Oft merken die Teenies dann selbst schnell, dass ihnen die Clique nicht guttut


Größere Mengen Alkohol trinken, spät nach Hause kommen, Eltern anlügen, den modischen Style eines anderer annehmen – Teenager probieren mit Gleichaltrigen vieles aus, was ihre Eltern nicht unbedingt gutheißen. Manche zaghaft, andere richtig exzessiv. „Ich habe mich von meiner Freundin Paula ganz schön mitreißen lassen“, erzählt die heute 23-jährige Annabell. „Sie war so cool, sie hat mit 14 angefangen zu rauchen, hat sich stark geschminkt, die Haare gefärbt und ist immer mit älteren Jungs abgehangen. Das hat mir imponiert – da wollte ich auch dazugehören.“ Annabell, die genau wie Paula zu keiner Clique gehörte, änderte ebenfalls ihr Äußeres, begann zu rauchen, obwohl sie es widerlich fand, und versuchte, den Geruch mit Haarspray und Parfüm zu überdecken, wenn sie nach Hause kam. „Einmal hat meine Mutter mich auf das Rauchen angesprochen und angefangen zu weinen, weil sie so enttäuscht von mir war. Das hat mir ein richtig schlechtes Gewissen gemacht – und eigentlich wusste ich ganz genau, dass das, was ich da machte, überhaupt nicht ich bin.“ Ein Jahr lang zog sich diese Phase hin, dann wechselte Paula die Schule, und Annabell wurde wieder zu Annabell, die ihre Leidenschaft für die Schultheatergruppe entdeckte.

Im Alter von 14 Jahren ist die Clique sehr wichtig – die Meinung der Eltern zählt dagegen nicht mehr so viel

Die Bedeutung der Peergroup, also der Gruppe der Gleichaltrigen, wird mit zunehmendem Teenageralter immer größer. Sie begleitet die Kinder mindestens ebenso intensiv wie die Eltern, manchmal sogar mehr. Auch wenn viele Erwachsene das nicht wahrhaben wollen. „Wenn ich zu einer Gruppe gehöre, die ich attraktiv finde, stärkt das mein Selbstwertgefühl“, erläutert Diplompsychologe Bodo Reuser. Studien belegen, dass Heranwachsende ungefähr ab einem Alter von zehn Jahren die Welt auf eigenen Wegen erkunden wollen – und dazu suchen sie sich Verbündete. „Die Hochphase dieser neuen Bindungen ist mit ungefähr 14 Jahren erreicht“, so Reuser. Freundschaften werden immens wichtig, teilweise ersetzen sie sogar die Eltern als wichtigste Vertrauenspersonen.

Doch das kann zuweilen schiefgehen: „Ich berate gerade einen Abiturienten, der genau in der achten Klasse sein Outing hatte“, berichtet Ulrike Bentlage von der Berufsberatung My Careermap. „ Er erzählte seinem besten Freund, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt, und dachte, dass es ein vertrauliches Gespräch sei – doch dann fand er diese Nachricht auf Facebook wieder.“ Eine herbe Enttäuschung. Dennoch schaffte es der Teenager, die Situation ins Positive zu drehen, indem er in die Offensive ging. „Damit verschaffte er sich großen Respekt in seiner Peergroup und wurde als sehr souverän anerkannt“, so Bentlage. Heute ist er Jahrgangsstufensprecher.

 

Auch Franziska erlebte mit ihren Freundinnen in der achten und neunten Klasse eine experimentelle Zeit, in der sie sich aus heutiger Sicht gar nicht wohlfühlte. „Wir waren eine Gruppe von sechs Mädels und kannten uns schon seit der fünften Klasse. Aber dann begann auf einmal, der Alkohol interessant zu werden – und alle machten mit“, erzählt die 17-Jährige. Beinahe jedes Wochenende gingen die Minderjährigen feiern, betranken sich und kamen auch schon mal später als verabredet nach Hause. „Einmal war es bei mir vier Uhr morgens – da war vielleicht was los“, erinnert sich Franziska. Doch das Schlimmste war für die Schülerin, wie ihr Vater reagierte, als sie ihm einmal morgens verkatert begegnete: „Er hat mich bestimmt eine halbe Stunde lang damit aufgezogen. Das war mir extrem unangenehm und hat sich nachhaltig in mir festgesetzt.“

Franziska begann, in ihrer Peergroup vernünftige Positionen zu vertreten, was auch ihrem Naturell entsprach: „Mir war es immer wichtig, Regeln zu befolgen und mich an Gesetze zu halten. Aber irgendwie hatte ich mich von den anderen mitreißen lassen.“ Bentlage weiß, warum das so ist: „Je enger man in die Gruppendynamik einer nicht frei gewählten Gemeinschaft – wie der mit schulischen Freunden – eingebunden ist, desto eher tut man Dinge, die gegen die eigenen Bedürfnisse gehen.“ Und Cliquen sind nun mal das Zentrum des sozialen Lebens von Pubertierenden. Allerdings ist das eine Phase, die sich wieder abschwächt. Auch bei Franziska. Ihrer Clique blieb sie treu, dem Alkohol aber nicht, was durchaus geachtet wurde. „Meine Freunde haben mir sogar alkoholfreies Bier bestellt und gesagt, dass sie es gut finden, wenn ich nichts trinke.“ Sie wollte sie animieren, es ihr gleich zu tun, doch sie lehnten mit der Begründung ab, sich durch das Trinken interessant machen zu wollen. „In dieser Zeit haben sich meine Freunde sehr verstellt, und das fand ich schade“, resümiert die 17-Jährige. Als sie ihren heutigen Freund kennenlernte, schloss sich das Kapitel für sie.

Eine Peergroup aus dem schulischen Umfeld – egal in welcher Größe – kann sehr anstrengend sein. Gemeinschaften, die man sich im privaten Bereich sucht, sei es kirchlich, sportlich, musikalisch oder künstlerisch, wirken eher stabilisierend. Denn hier herrschen Gemeinsamkeiten vor, man handelt aus gleichen Interessen. „Das ist meist konstruktiver als die schulische Zwangsgemeinschaft“, weiß Bentlage aus zahlreichen Gesprächen mit Jugendlichen.

Weitere Info

  • Berufsberatung und
    Potenzialanalyse bietet Ulrike Bentlage über ihre Website
    www.mycareermap.de

Ob verordnet oder selbst gewählt, eines gilt bei beiden Gruppen: Die Identifikation mit Gleichaltrigen ist extrem wichtig, weil sie als Selbstwertstabilisator dient. Gleichzeitig fungieren die Freunde als soziale Puffer, die helfen, Situationen wie etwa Mobbing oder Ärger mit den Eltern zu bewältigen. Dennoch werden Mutter und Vater von Pubertierenden nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Stimmt die Basis, sind also Vertrauen und Respekt da, wird sie auch weiterbestehen. Nur vielleicht weniger intensiv. Droht ein Kind dennoch, in einen negativen Freundeskreis zu geraten, helfen keine Verbote. Die führen nur zu Heimlichkeiten. „Wichtiger ist es, den Kontakt zu halten und sich miteinander zu beschäftigen“, rät Reuser, der die Erziehungsberatungsstelle der evangelischen Kirche in Mannheim leitet. Auch wenn das manchmal leichter gesagt ist als getan, ist der respektvolle Dialog das einzig Zielführende. „Der richtige Weg könnte sein, bestimmte Fragen zu stellen: Was magst du so an der Person? Was ist eure gemeinsame Basis?“, sagt Bentlage. Eltern dürfen ruhig artikulieren, was sie an dem Freund stört, und ein Nachdenken über Konsequenzen anregen, die der Umgang in der Außenwirkung mit sich bringen könnte. Jeder muss ein Gespür dafür entwickeln, wo er hinpasst. Das gilt auch später für das berufliche Umfeld. Geschult werden kann das bereits im Jugendalter.



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