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Familie für Fortgeschrittene

Acht Erwachsene, acht Kinder, drei Generationen: Was sich heutzutage kaum einer mehr zutraut, leben die Bewohner des Niederhofs in Sachsen freiwillig. Jung und Alt wohnen zusammen. Besuch bei einem Mehrgenerationenprojekt in Görlitz


Die Grillwürstchen sind noch nicht fertig, doch der Hunger drängt. Hinter den Bewohnern des Niederhofs im sächsischen Görlitz liegt ein langer Nachmittag: erst das Kitafest nebenan. Dann Kohlrabi setzen im Garten. Später Hausmusik: Jazz, Klezmer, Songs zum Mitsingen. Die 36-jährige Miriam stellt lächelnd den Kontrabass zur Seite: „Musik verbindet einfach!“ Gemeinsame Abendessen aber auch: Einmal in der Woche kommen die Bewohner des Gemeinschaftprojekts zum Kochen zusammen. Heute liegen Wurst und Brot auf dem Holztisch neben der Feuerstelle, der Salat ist aufgetragen. Endlich ist es so weit: „Würstchen sind fertig!“ Hungrig langen die Kinder Elias, Mateo und Bennet zu. Keine Sorge, es reicht für vier Familien: die Elternpaare Miriam und Robert, Tina und Bernd, Johannes und Jana sowie deren Kinder, außerdem für die 74-jährige Barbara und ihren Mann Peter, 80.

Görlitz, der östlichste Zipfel Deutschlands kurz vor der polnischen Grenze. Die Abendsonne taucht den Niederhof in warmes Licht. Rauchkringel steigen vom Lagerfeuer in den wolkenlosen Himmel. Vor einem halben Jahr sind die ersten Familien in das rundumsanierte Haupthaus gezogen. Vier Familien, acht Kinder, drei Generationen. Irgendwann, wenn der Seitenflügel mal fertig ist, könnten es noch mehr werden.

Die Idee: Jung und Alt sollen gemeinsam den Alltag leben. „Die Kinder geben unserem Leben Frische und Wärme“, sagen Barbara und Peter, die Ältesten der Gruppe. Junge Eltern wie Bernd und Tina freuen sich, „dass immer jemand auf dem Hof ist, wenn die Kinder aus der Schule kommen“, jemand, der Zeit hat, mit ihnen zu werkeln, zu graben, zu bauen und über Gott und die Welt zu plaudern. Und die Kinder? „Die fliegen auf Barbara und Peter“, erzählt Robert.

Vor sechs Tagen erst sind die beiden Senioren richtig eingezogen. Noch fehlen Regale. Trotzdem wirkt es so gemütlich, als lebte das Paar schon lange hier. Im Wohnzimmer standen einst die Pferdefuhrwerke, jetzt steht hier ein Kaminofen. Der Blick von der Sitzecke durch die großen Glastüren reicht weit über den Garten bis zu den abgesägten Birkenstämmen, aus denen Miriam demnächst ein Tipi bauen will. Die Stiege hinter Peters Schlafecke führt auf eine Zwischenebene, eine Höhle für die Kinder mit kleinen Korbsesseln und Sitzkissen.

Da läutet es Sturm. Barbara atmet tief ein: „Die Kinder wahrscheinlich. Vielleicht sollten wir ein Klingelzeichen für die Erwachsenen einführen.“ Sich abgrenzen, Ruhe nehmen, das müssen Barbara und Peter erst lernen im Mehrgenerationenhaus. „Aber wir genießen die Gemeinschaft. Im Alter mit Kindern zu leben, das war immer mein Traum“, sagt sie. Ihr Mann grinst: „I accompany the Queen.“ „Ach komm, wir haben das zusammen entschieden!“ Peter lächelt seiner Frau zu und nickt.

Das Mehrgenerationenhaus hat Barbara selbst erdacht, inspiriert durch soziale Projekte in Israel und Brasilien, wo das Miteinander von Alt und Jung selbstverständlicher ist als hierzulande. Einen Lebensabend im Altenheim, abgeschoben und zur Untätigkeit verdammt, konnte sie sich nicht vorstellen: „Ich wollte eine Alternative schaffen.“ Einen Ort, an dem Ältere ihre Erfahrungen einbringen können, inspiriert von der Aktivität der Jungen. Der Verein „Jung und Alt“ wurde gegründet, um generationenübergreifendes Wohnen im Ort zu entwickeln. Knapp zwanzig Mitglieder zählt er heute. Als der halb verfallene Niederhof zum Verkauf stand und sich eine Kita-Initiative anschloss, wurde die Idee Wirklichkeit. Das Konstrukt: Offiziell ist der Verein Käufer und Bauträger. Er vermietet die Wohnungen an die Familien, die die Finanzierung über Einlagen und Bürgschaften absichern.

Die Kette will einfach nicht auf den Zahnkranz. Robert und der kleine Elias stehen zwischen Kreissägen und Schraubenschlüsseln in der Werkstatt und ziehen mit aller Kraft. Das Fahrrad läuft wieder rund. Na bitte. Nebenan räumt Peter in der Töpferwerkstatt. Der Brennofen muss repariert werden. Regelmäßig wollen die Älteren hier Töpferkurse anbieten. Drüben im Gemeinschaftsraum im ehemaligen Pferdestall gibt es Workshops für Filzen und Weben. Die gemeinnützige Arbeit gehört zum Konzept. So kommt Leben in die Bude, und der Verein erhält seine Gemeinnützigkeit. Robert wischt die Hände sauber: „Schluss für heute.“

Er liebt das gemeinsame Anpacken. Hinterm Haus entsteht ein Sinnespfad, bald wollen die Männer ein Backhaus bauen. Miriam und Robert waren von Anfang an dabei. Wöchentliche Projekttreffen, Baueinsätze am Wochenende. „Ohne Peter hätten wir vieles nicht geschafft“, meint Robert. Schubkarrenweise hat der 80-Jährige den Schutt aus den alten Gemäuern gefahren, monatelang. Das hat Robert sehr beeindruckt.

Skeptisch war der Sozialpädagoge anfangs dennoch. Würde so ein Projekt überhaupt funktionieren? Mal sprang eine Familie ab, mal kam eine neue dazu. Erst nach sieben Jahren stand die Gruppe. Bereut haben Miriam und Robert den Schritt aber nie. Nicht nur sie sind Gemeinschaftsmenschen, auch die Kinder verstehen sich prima.

Ein Paradies für die Kleinen ist der Hof: Immer ist etwas los. Man kann Beete anlegen, im Winter Schlitten fah­ren, im Sommer auf Bäume klettern oder im Bach planschen. Drei Hektar Land gehören zum Niederhof.

„Trotzdem stehen wir noch am Anfang“, sagt Tina. Gemeinschaft muss man üben, und Konflikte müssen gelöst werden. Wie neulich, als sich Miriam ärgerte, dass ein Baum gefällt wurde. Wie gestern, als Tina sauer war, dass Miriams Sohn Lennart einfach ein neues Beet angelegt hat. Was, wenn die einen mal zu laut sind, die anderen mal nicht genug anpacken, wenn sich Kinder streiten oder Erziehungsstile aufeinanderprallen? Dann, meint Miriam, helfe nur eines: „Offen zu sein und respektvoll die Meinung zu sagen.“

Alle acht Wochen gibt es Gemeinschaftstreffen. Dann diskutieren die Erwachsenen über Kommunikationsregeln und klären kleine Unstimmigkeiten. Im Herbst steht ein Seminarbesuch auf dem Plan: „Wege zur Gemeinschaftsbildung“. Tina hält das nicht für übertrieben: „Wir wollen schließlich mehr sein als ‚Schöner Wohnen‘ mit coolem Design und Altersmischung.“ Eines hat das Team bereits klar geregelt: Wenn die Alten mal gebrechlich werden, werden Profis eingestellt. Sie übernehmen die pflegerischen Aufgaben, für das Soziale sorgt die große Gemeinschaft: plaudern, kochen, einkaufen. Und falls sich – theoretisch – eine Familie mal unversöhnlich verstreiten sollte? „Als Mieter des Vereins“, erklärt Robert, „haben wir eine Kündigungsfrist von drei Monaten.“

Am Morgen nach dem Grillabend ist Garteneinsatz. Vereinsmitglied Cordula, die nicht auf dem Hof lebt, ist mit Handschuhen, Hacken und Spaten angerückt, um die erste Aktion des neu gegründeten Gartenkreises anzugehen. Auf der Tagesordnung: Die Rabatte in der Hofmitte soll bepflanzt werden. Miriam packt mit an. Cordula freut sich auf ihre Hofbesuche, hat aber nichts dagegen, „etwas Abstand zu haben“. Will sie später selbst einziehen, wenn weitere Wohnungen fertig sind? Vielleicht.

„Noch eine Runde, dann gibt es Gemüserisotto für alle!“, ruft Miriam. Lennart, ihr Ältester, schnappt sich die Schubkarre und gräbt sein neues Beet um: „Ich baue hier Mais an, der ist ein guter Windschutz.“ Vor der Werkstatt hat Peter die Ärmel hochgeschoben und die Schleifmaschine angeworfen. Die Bretter für das neue Regal sollen heute fertig werden. Die Sonne scheint, kleine Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Kaum zu glauben, dass dieser Mann 80 Jahre alt ist. Peter zieht die Brauen hoch und grinst: „In Bewegung bleiben hält eben jung.“



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