Lesen & Leben

Leben in der Wagenburg

Es geht auch anders: In der Münchner Wagenburg "Stattpark Olga" leben Erwachsene und Kinder den Gegenentwurf zu Kommerz und Egoismus – und wachsen als Großfamilie zusammen


Draußen spielen? Och nö, draußen war Miro doch schon den ganzen Vormittag mit seinem Waldkindergarten. Jetzt spielt er lieber Lego mit seinem großen Halbbruder Nico und der dreijährigen Alma, die heute zu Besuch sind. Legoautos sausen über die Matratze, Miro hüpft hinterher, seine Wangen glühen – glückliches Kinderleben.

Die Kuschelecke, in der die Kinder toben, war früher Nicos Bereich, als er noch bei seinem Vater Martin wohnte – inzwischen lebt er bei seiner Mutter in einer normalen Wohnung. Vater Martin hat seine Schlafkoje noch immer über der Kuschelecke und unterhält die Kinder gerade mit der Gitarre. „Das hier war nie nur mein Wagen“, sinniert Martin, „irgendwie war das immer die Familienwohnung.“ Zu seinen Füßen heizt der Holzofen, drüben bei der Spüle trocknet das Geschirr: zwei Zimmer, Wohnküche, 20 Quadratmeter mit Bad überm Hof . . . Das ist Wohnen in der Wagenburg.

Der „Stattpark Olga“ ist ein Wohn- und Kulturprojekt in München. 21 Erwachsene und sechs Kinder wohnen auf einer Brachfläche zwischen Bahngleisen, Schlachthof und Kreisverwaltungsreferat in Zirkuswagen, Wohnmobilen oder umgebauten Möbelanhängern. Ein Wagen beherbergt eine Schreinerei, ein anderer eine Elektronik-Werkstatt. Dazwischen gibt es einen „Kloturm“, einen Duschwagen, eine Open-Air-Badewanne und einen Spielplatz. Die kleine Gemeinschaft versteht sich als „Gegenpol zur Welt des Konsums“, jeder achtet auf einen schonenden Umgang mit Ressourcen. Die Bewohner nutzen Solarstrom und Regenwasser, sie kompostieren und haben einen Gemüsegarten angelegt.

 

Die „Olgas“ machen Catering für Flüchtlingsunterkünfte, führen ein Platz-Café auf Spendenbasis und bringen auf Festen die Nachbarschaft zusammen. Ihren aus Secondhand-Holz gezimmerten Veranstaltungsraum stellen sie kostenlos für Kulturveranstaltungen zur Verfügung, die in München sonst nur schwer Platz finden – vom Punkkonzert bis zur Vernissage eines mittelamerikanischen Guerillakünstlers.

Es ist ein unkommerzieller Freiraum, wie ihn die Bewohner selbst nennen, kreativ, offen – und improvisiert: Der Platz existiert zur Zwischenmiete, bald wird die Wagenburg zum zweiten Mal in den fünf Jahren ihres Bestehens umziehen müssen. Der Mietvertrag läuft Ende des Jahres aus, jetzt ist November, und noch immer steht nicht fest, wie und wo es danach weitergeht. Eine Wagenburg muss fahrbereit sein. Ein spannendes Projekt, zweifelsfrei – aber mit Kindern?

Die Kinder hier haben viele BezugspersonenSarah, Mutter von Miro, 4

„Als Familie ist es wunderbar“, sagt Miros Mutter Sarah, die als selbstständige Stimmbildnerin und Gesangspädagogin unter anderem Lehrkräfte unterrichtet. „Für unseren Sohn gibt es hier nirgends verschlossene Türen. Miro klärt selbst, wann und wo er hingehen kann und darf. Ich genieße es sehr, dass ich mir darum nicht ständig Gedanken machen muss.“

Dass sich Eltern und Nichteltern Betreuungszeiten teilen, steht im „Selbstverständnis“, das sich die Stattpark-Bewohner gegeben haben und das generell viel von Teilen, Helfen und Gemeinschaft handelt. Aber klappt das wirklich im Alltag? „Natürlich möchte jeder auch mal seine Ruhe haben“, erklärt Sarah, „aber an sich haben wirklich alle hier Bock auf Kinder, auch die, die selbst keine haben. Dabei kann Miro wie alle anderen ziemlich anstrengend sein – das sind echt Freikinder hier.“

Infos

  • Unter olga089.blogsport.de informiert der „Stattpark Olga“ über sich und seine Veranstaltungen. Miros Mutter Sarah bietet über sarah-lidl.de Stimmbildung, Sprechtraining und Logopädie an.

„Freikind“ Miro will jetzt doch nach draußen, gerade hat er durchs Fenster seine beste Freundin Lotti beim Wagen gegenüber entdeckt. Eilig springt er in die Stiefel, streift sich die Jacke über und ist weg. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Vierjährige in andere Wagen steigt, die Souveränität, mit der alle Kinder zwischen einem und 14 Jahren gemeinsam das Gelände bespielen – das ist schon beeindruckend. Kein Vergleich mit den Stadtwohnhäusern nebenan, in denen sich die Nachbarn kaum kennen. Auch nicht mit den Reihenhäusern weiter draußen, zwischen denen die Zäune meist zwar niedrig scheinen, aber tatsächlich hoch sind.

Viele Kinderzimmer sind so groß wie im Stattpark Olga ein ganzer Familienwagen. Aber was ist das schon im Vergleich zur Freiheit einer Wagenburg? „Unsere Kinder haben viele Bezugspersonen, die ganz selbstverständlich mit ihnen umgehen“, schwärmt Sarah. „Aber alle haben auch ihre Eltern.“



Unsere Themen im Überblick

Kommentieren