Denken & Diskutieren

Lernen ohne Zeitdruck

Pauken, abfragen, Klassenarbeit schreiben mit der Stoppuhr: In den Klassenzimmern regiert der Zeitdruck. Dabei weiß die Forschung: Für nachhaltiges Lernen ist die Hetze kontraproduktiv


Die ersten Bewertungen, die meine Tochter auf einer als „Geheimpapier“ verschleierten Klassenarbeit nach Hause brachte, waren keine Noten. Es waren Minutenangaben: „22 Min.“ stand da, und „Durchschnitt: 15 Min.“. Diese Information war für uns Eltern gedacht, doch ich verstand sie nicht. Meine Erstklässlerin hatte stets die geforderte Anzahl aufgemalter Obststücke eingekringelt – die Aufgabe offenbar gut gelöst, was ein hingestempeltes Lachgesicht attestierte. Also alles wunderbar, oder?

„Aber sie ist halt noch etwas langsam“, klagte die Lehrerin beim Elternsprechtag. „Wie überhaupt die Mehrheit der Klasse, das macht mir Sorgen.“ Da begann ich zu begreifen: Etwas richtig zu machen genügt nicht in der Schule, man muss auch flink genug sein. Mindestens so schnell wie der Durchschnitt der Klasse, besser noch so schnell wie der gefühlte Ideal-Durchschnitt der Lehrerin, den diese in 30 Berufsjahren ermittelt hat.

Das kannte ich noch aus meiner eigenen Schulzeit: „Stifte weg, Schluss jetzt!“, lautete der unbarmherzige Abpfiff jeder Klassenarbeit. „3-2-1-aus!“, rief der Englischlehrer, wenn uns beim Abfragen die Vokabel nicht sofort auf der Zunge lag. Aber dass die ständige Hetze für Schüler wie Lehrer heute immer noch pädagogisch geboten ist, hätte ich nicht gedacht.

„Im Gegenteil“, widerspricht denn auch der Hirnforscher Gerald Hüther. „Unter Zeitdruck lernt das Gehirn schwer, und wenn, dann eher, wie es dem Zeitdruck ausweicht, und nicht das eigentlich Gewünschte.“ Eine solche Dressurschule alten Ursprungs führe dazu, dass junge Menschen schon zwei Jahre nach ihrer Schulzeit nur noch zehn bis 20 Prozent des gelernten Stoffs im Kopf hätten. Bulimie-Lernen also, schnell rein, schnell reproduzieren, schnell wieder raus.

Sicher, es gibt Ausnahmen. Routinetätigkeiten wie Lesen, das Einmaleins, Rechenregeln, Vokabeln oder Interpunktion muss man automatisieren, also auf Schnelligkeit trainieren, damit der Arbeitsspeicher im Gehirn Platz für komplexe Aufgaben hat. Doch generell, so der Didaktiker Henning Günther, gilt: „Je komplexer die Aufgabe, desto schädlicher ist Zeitdruck.“

Susanne Leeb jongliert täglich mit dem Wissen um diese beiden Parameter. Die Gymnasiallehrerin unterrichtet Englisch, Italienisch und Biologie und steht selbst massiv unter Zeitdruck: „Egal wie langsam das Kind ist, ich darf für das Abfragen von zehn Vokabeln keine halbe Stunde brauchen. Sonst kann ich keinen neuen Stoff mehr durchnehmen.“ Doch woher weiß ein Lehrer, wie lange ein Kinderkopf für drei Einmaleins-Aufgaben oder 20 Zeilen Lateinübersetzung benötigen darf? „Reine Erfahrung“, erklärt Pädagogin Leeb. „Manche Kollegen lösen die Aufgabe selbst und nehmen die benötigte Zeit mal drei, andere gehen während einer Klassenarbeit durch die Reihen und lassen den Schülern Zeit, bis der Großteil fertig ist.“

Aber wie passt diese Fixierung auf Geschwindigkeit zusammen mit dem heute viel gebrauchten Schlagwort vom „Lernen im eigenen Tempo“, das die moderne Pädagogik doch jedem Schüler ermöglichen will? „Gar nicht!“, sagt Maria Hallitzky. Die Didaktikprofessorin aus Leipzig war früher selbst Grundschullehrerin und weiß aus ihren Forschungen, was Eltern und Kinder Tag für Tag spüren: dass vor allem in den weiterführenden Schulen die Möglichkeiten der Lehrer, einem Schüler „seine“ Zeit zuzugestehen, sehr eingeschränkt sind. „Insbesondere für das Gymnasium gilt häufig noch das Prinzip ‚Wer zu langsam ist, gehört eben nicht auf diese Schule.‘“

Sie selbst, erzählt sie, hat in der 1. und 2. Klasse den langsameren Kindern gern mal mehr Zeit gelassen, aber: „Spätestens wenn es um Noten für den Übergang auf die weiterführende Schule geht, brauchen Lehrer unanfechtbare Maßstäbe, und das heißt dann eben: gleiche Zeit für alle. Das hat leider nichts mit Pädagogik zu tun.“

Dass es auch anders geht, hat die bayerische Abiturientin Irina Hennis in Kanada erlebt, wo sie die Hälfte ihres zehnten Schuljahrs verbracht hat. „Eine feste Zeitbegrenzung für Tests gab es dort gar nicht“, erzählt sie. „Die Schüler durften so lange weiterschreiben, bis sie fertig waren, manche haben die Arbeit auch am nächsten Schultag oder zu Hause fertiggestellt.“ Dümmer sind die jungen Kanadier deshalb offenbar nicht; in den Pisa-Studien jedenfalls liegen sie stets vor den deutschen Neuntklässlern.

„Natürlich geht es anders!“, davon ist auch Henning Kullak-Ublick überzeugt. Der Waldorflehrer mit Leib und Seele erzählt von mehrwöchigem Epochenunterricht, vom Rhythmus aus Wissen aufnehmen und gestalterischem Verarbeiten. „Das selektive deutsche Schulsystem funktioniert doch nur, weil sich drum herum ein milliardenschwerer Nachhilfemarkt etabliert hat“, glaubt Kullak-Ublick, „Eltern bezahlen, damit das Kind zusätzlich Zeit bekommt – Zeit zum Üben, zum Verstehen, die ihm die Schule verwehrt.“

Tipps für mehr Tempo

  • Schneller durch Üben
    Bitten Sie die Lehrkraft, neben Übungsaufgaben zu vermerken, in welcher Zeit Kinder diese lösen sollten. Dann mit der Eieruhr hinsetzen und üben, üben, üben. „Das ist nicht schön, aber anderer-
    seits ist es frustrierend für Schüler, wenn sie den Stoff eigentlich könnten, aber immer wieder nicht fertig werden“, sagt Gymnasiallehrerin Susanne Leeb.

  • Zeitmanagement lernen
    Erinnern Sie ältere Schüler daran, bei Klassenarbeiten auf die vergebenen Punktezahlen pro Aufgabe zu achten! Bringt eine Aufgabe die Hälfte aller Punkte, darf ich dafür auch etwa die Hälfte der Zeit brauchen.

  • Routine macht sicher
    Automatisieren Sie Routinewissen
    mit dem Kind. Das gibt Sicherheit
    und bringt in Testsituationen Zeit für schwierigere Aufgaben.

Womöglich dient all das Peitschenknallen der Vorbereitung aufs Leben? Schließlich muss später im Beruf auch alles flott gehen. Da winken sie alle ab – der Hirnforscher Hüther, der Didaktiker Günther und natürlich der Waldorflehrer Kullak-Ublick. Für viele Berufe sei heute nicht Schnelligkeit ausschlaggebend, sondern Kreativität, Genauigkeit oder auch die Kompetenz, Probleme zu lösen.

„Kein Mensch käme auf die Idee, einem zu jungen Pferd schon einen Sattel aufzulegen!“, sagt Kullak-Ublick. „Ein Kind muss reifen dürfen.“ Und dann erzählt er die Geschichte seines ehemaligen Schülers Finn, der sich vier Jahre lang beharrlich weigerte, schreiben und lesen zu lernen. „In der 5. Klasse nahmen wir Alexander den Großen durch, und eines Nachmittags rief mich der Vater an: ‚Kommen Sie schnell her, das müssen Sie sehen!‘. Da lag der Junge in seinem Zimmer, neben sich vier Bücher aus der Bibliothek über Alexander den Großen, und las.“ Eine Woche später, so Kullak-Ublick, habe der Schüler einen Aufsatz über den Geschichtsstoff geschrieben, „kaum zu entziffern, aber druckreif formuliert“. Später absolvierte Finn ein gutes Abi und studierte Germanistik. Heute ist er selbst Lehrer.

Einer „Laissez faire“-Pädagogik würde Waldorflehrer Kullak-Ublick dennoch vehement widersprechen. „Nicht abwarten und nichts tun, sondern sich immer um das Kind bemühen und schauen, was es gerade braucht“, so formuliert er seinen Leitsatz. Oft ist das nur ein bisschen Zeit.



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