Lesen & Leben

Mama, du bist voll peinlich

Sie rufen „Schnucki!“ vor der Schule, tragen jugendliche Jeans und reißen Flachwitze – echt daneben, was die Alten sich manchmal so leisten. Kinder finden ihre Eltern oft peinlich. Gut so! Das birgt die Chance auf Veränderung


Kerstin ist empört. Ihr Sohn Jakob, 14, hat sich über das Familienauto beschwert. „Da sagt der doch glatt zu mir, wie peinlich ihm die alte Karre ist. Ich solle damit bloß nie wieder auf den Schulparkplatz fahren.“ Kerstin schnaubt: „Soll er doch zu Fuß gehen, wenn ihm unser Auto nicht fein genug ist!“

Zugegeben: Der rote Passat, Baujahr 1995, hat seine besten Zeiten wirklich hinter sich. Der Lack ist stumpf, der Innenraum Zeuge eines turbulenten und nicht gerade ordentlichen Familienlebens. „Klar ist das Auto alt. Das ist doch kein Grund, es peinlich zu finden“, meint Kerstin. „Oder doch?!“

„Voll peinlich“ und „echt daneben“ finden die meisten Kinder irgendwann Aspekte des Familienlebens, die vorher keine Beachtung fanden. Für viele Eltern ein Schock und eine Kränkung, die sie – bäm! – voll erwischt.

„Eltern werden von ihren Kids oft auf eine harte Probe gestellt“, sagt Angela Kling. Die Pädagogin und Mutter zweier Kinder hat einen Elternratgeber über die Pubertät geschrieben („Pubertät“, Humboldt Verlag, 9,95 Euro) und coacht Eltern, die nicht mehr weiterwissen. Zum Beispiel, weil sie traurig, wütend und enttäuscht über die harsche Kritik der Sprösslinge sind und sich fragen: Bin ich meinem Kind nicht mehr gut genug?

Der neue Ton der Kinder schmerzt umso mehr, als die meisten Eltern jahrelang mit Bestätigung verwöhnt, manchmal regelrecht vergöttert werden. Kleine Kinder finden in der Regel alles toll, was die Großen machen. Papa ist Mitglied im Michael-Wendler-Fanclub? Cool! Mama trägt grüne Haare zum pinkfarbenen Kleid? Super! „Oft fangen Kinder erst im Teeniealter an, das Verhalten der Eltern zu hinterfragen“, sagt Elternberaterin Kling. Nicht alle Jugendlichen finden dabei auch Kritikpunkte: „Manche sind tatsächlich ganz zufrieden.“

Falls nicht, können wichtige Signale dahinterstecken, sagt die Expertin: „Peinlichkeitsvorwürfe verraten viel über die Eltern-Kind-Beziehung und können Eltern Anhaltspunkte über die Bedürfnisse ihres Kindes liefern.“

Top 5 der Peinlichkeiten

  • Ohne anzuklopfen das Zimmer betreten: Jugendliche haben ein Recht auf Privatsphäre.

  • Öffentlich umarmen: Die Demonstration von Nähe gefährdet das „Ich bin groß“-Image.

  • Freunde ausfragen: Was machen deine Eltern beruflich? Solche Fragen werden als Misstrauen gedeutet.

  • Auf jugendlich machen: Heranwachsende wollen authentische Eltern, keine Witzfiguren.

  • Kindheits-Anekdoten erzählen: Eltern finden es lustig, Kinder peinlich. Also bitte nicht die Geschichte vom Erbse-in-Nase-Problem aufwärmen.

Der häufigste Knackpunkt: Die Eltern sehen nicht, dass der Nachwuchs kein Kind mehr ist. Auch wenn Mama jahrelang die Schultasche bis zum Klassenraum getragen hat – irgendwann ist Schluss. Einem 15-Jährigen Kakao aufs Zimmer bringen, wenn die Freundin da ist? Vor der Clique die Jacke zumachen? Bitte nicht! Bei einer Sitcom würde ein Raunen durchs Publikum gehen: Merkt die Frau denn nicht, wie peinlich sie ist?

Nein, eben nicht. Eltern sind wie alle Menschen Gewohnheitstiere. Brav kommen sie ihren Pflichten nach, schmieren Marmeladenbrote und reichen das Fieberthermometer, wenn die Stirn glüht. Auch die Teenager machen die gewohnten Rituale noch lange mit. Bis sie sich irgendwann schlagartig verweigern. „Die Peinlichkeitsvorwürfe an die Eltern sind dann der gesunde Ausdruck eines Menschen, der erwachsen werden möchte“, erklärt Kling, die aus vielen Gesprächen mit Eltern weiß: „Das kann wehtun und ist manchmal mit richtiger Trauerarbeit verbunden, besonders wenn die Beziehung zum Kind immer eng war und es nun auf Abstand geht.“

Doch Ablösung muss sein. Beide Seiten müssen ihre Rollen verändern. Nicht nur die Kinder entwickeln sich, auch die Eltern müssen ihren Beziehungskompass updaten.

Kling rät: „Sparen Sie sich auf jeden Fall Streitgespräche mit dem Nachwuchs. Das macht alles nur schlimmer.“ Besser sei es, in Ruhe über die Vorwürfe nachzudenken: Ist da vielleicht was dran? Mische ich mich zu viel ein? Übertrete ich Grenzen? Viele Forderungen haben bei näherer Betrachtung nämlich durchaus eine Berechtigung: Der Wunsch, dass die Eltern anklopfen, bevor sie ins Zimmer kommen, und sich auf der Geburtstagsfete im Hintergrund halten – verständlich! Bei manchem Seitenhieb geht es aber gar nicht ums Erwachsenwerden, sondern um die Kluft zwischen den Generationen: „Papa, echt! Deine Frisur, deine Schuhe! Du killst das Klima mit deinem Fleischkonsum! Überhaupt: Immer Urlaub in Dänemark nervt. Und Mama: Kaffeesahne ist was für Omas!“

„Dieser frische Wind von den Kids kann eine große Chance für Eltern sein“, sagt Pädagogin Kling. Der jugendliche Blick bringt neue Impulse, vielleicht sogar Veränderung in festgefahrene Gewohnheiten. Gemeinsam vegan kochen, mal in anderen Klamottenläden einkaufen gehen, sich an neue Bücher, Filme und Musik trauen: Wer sich auf die Interessen des Kindes einlässt, bleibt geistig beweglich und schafft natürlich auch mehr Nähe und Verständnis zur Welt des Kindes.

Verbiegen sollten Eltern sich deshalb nicht. Bei Beleidigungen und fiesen Verbalattacken ist Schluss mit lustig. Ein respektvoller Umgang miteinander endet schließlich nicht mit Beginn der Pubertät. Im Gegenteil, sagt die Expertin: „Jugendliche können gerade durch das Vorbild der Eltern und die Auseinandersetzung mit ihnen lernen, wie man Kritik auch sachlich und konstruktiv vorbringt.“

Hinzu kommt: Eltern sind keine Marionetten! Leidenschaften und Vorlieben sind gewachsen, gehegt und gepflegt: Wenn der Papa gern Elvis hört, muss der Sohn sich zur Not eben Kopfhörer aufsetzen, wenn er das nicht aushalten kann. Und nur weil die Tochter HipHop tanzt, muss die Mutter nicht ihren Bauchtanzkurs kündigen. „Zum Erwachsenwerden gehört auch, andere Menschen in ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren“, sagt Kling. „Das ist die Grundlage für Toleranz und Menschenfreundlichkeit.“

Der alte Passat, hat Kerstin mittlerweile entschieden, bleibt – ob peinlich oder nicht. Sohn Jakob hat sich sogar bereit erklärt, die alte Kiste freiwillig zu säubern. „So sieht sie zumindest etwas besser aus“, grummelt er. Der Deal für die Zukunft: Kerstin fährt öfter in die Waschstraße, Jakob meckert nicht mehr. Busfahren findet er nämlich noch blöder.



Unsere Themen im Überblick

Kommentieren