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Musical.ly oder warum Musikhören heute anders ist als früher

Heute „Mathcore“, morgen Deutschrock: Dank Streamingdiensten wie Spotify haben wir heute Zugang zu jeder Art von Musik. Das nutzen Kinder und Jugendliche. Sie sind aber nicht nur Konsumenten, viele werden sogar selbst zu Künstlern. Etwa mit der Musikvideo-App musical.ly


Wenn die Zwillinge Lisa und Lena ihrem Hobby nachgehen, dann erreichen sie damit mal eben acht Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Die beiden 14-jährigen Mädchen aus der Nähe von Stutt­gart sind die deutschen Stars auf ­musical.ly,
einer Musikvideo-App. Deren Community besteht inzwischen aus mehr als 200 Millionen Nutzern, in den USA hat nach Schätzungen der Macher ­jeder zweite Teenager musical.ly auf dem Smartphone. Und das Beste aus Sicht der Jugendlichen: Sie sind hier unter sich, Erwachsene haben die App noch nicht für sich entdeckt.

Die Nutzer – die ­sogenannten „Muser“ – nehmen 15-sekündige ­Videoschnipsel von sich selbst auf, „Musicals“ genannt, in denen sie ihre Lippen zu populären Songs bewegen, Das Ganze erinnert ein wenig an die „Mini Playback Show“, die in den 90er-Jahren im deutschen Fernsehen lief. Nur ist die Wirkung von musical.ly um ein Vielfaches größer: Songs, die hier populär werden, klettern auch auf iTunes oder Spotify in den ­Charts nach oben. Und wer es auf musical.ly zu Ruhm bringt, dem winken nicht nur Anerkennung in Form von Herzchen, die die anderen Nutzer verteilen. Lisa und Lena haben inzwischen ihre eigene Modelinie, der 13-jährige amerikanische „Muser“ Jacob Sartorius einen Plattenvertrag.

 

Das ist musical.ly

musical.ly – Magazin SCHULE ONLINE
  • Nutzer

    Die kostenlose App musical.ly haben inzwischen mehr als 200 Millionen Menschen auf ihren Smartphones. Die meisten sind Teenager. 75 Prozent der „Muser“ sind weiblich.

  • Idee

    Die Gründer hatten eigentlich eine Bildungsvideo-App im Sinn, die jedoch mangels Interesse kläglich scheiterte. Stattdessen entwickelten sie aus derselben Grundidee musical.ly: Videoclips in minimaler Länge – mit maximalem Unterhaltungswert.

  • Funktionen

    Am gängigsten sind die „Musicals“: 15-sekündige Videos, in denen die Nutzer zu bekannten Songs tanzen und die Lippen bewegen. Selbst zu singen ist nicht nötig, aber möglich. Für Videos, die ihnen gefallen, verteilen Nutzer Herzen.

  • Stars

    International steht „Baby ­Ariel“ Martin, ein Teenager aus Florida, an der Spitze, in Deutschland haben die Zwillinge Lisa und Lena den größten Erfolg und inzwischen mehr als acht Millionen ­Follower. Die beiden 14-Jährigen müssen auf der Straße Autogramme geben und für Fotos posieren. Dank ihrer ­Popularität haben sie schon einen Werbevertrag ergattern können.

„Heute kann jeder Jugendliche zum Künstler werden“, sagt Timo ­Fischinger, Musikwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Ästhetik. „Und durch das Internet und moderne Technologien ist es so leicht geworden wie nie, seiner Kreativität freien Lauf zu lassen.“ Mit der eigenen Stimme auf YouTube berühmt zu werden war gestern – heute ist es offanbar nicht einmal mehr nötig, selbst Musik zu machen, um in der neuen Musikwelt erfolgreich zu sein.

Es gibt kein langes Warten mehr auf ein Album. Jedwede Musik ist mit einem Klick sofort verfügbarTimo Fischinger

Dabei gilt heute genauso wie vor 50 Jahren: Zu keinem Zeitpunkt ist Musik beliebter und wichtiger als im Jugendalter. Musikhören ist unverändert eine der häufigsten Freizeitbeschäftigungen von Jugendlichen. ­Allerdings haben sich die Gewohnheiten verändert: „Man hört jetzt nicht mehr ein Wochenende lang dieselbe Platte und liest währenddessen das Booklet dazu“, sagt Timo Fischinger. „Es gibt auch kein langes Warten mehr auf ein Album, stattdessen ist jedwede Musik heute mit einem Klick sofort verfügbar. Dadurch lernen die Jugendlichen viel mehr Musik kennen als früher.“ Und genau das könnte dafür verantwortlich sein, dass Heranwachsende heute sehr viel flexibler scheinen als früher, was ihren Musikgeschmack angeht.

„Ich höre fast jede Art von Musik“, sagt der 17-jährige Joshua Jüdes. Nur mit Kanye West oder ­Drake kann er nichts anfangen – obwohl viele ­seiner Freunde Hip-Hop hören. Gerade ist er auf der Suche nach einer neuen Band, deren Stil ist dabei fast zweitrangig: „Als Bassist wär mir eine Funk-Band am liebsten, weil das am herausforderndsten wäre. Vom Feeling her würde mir Reggae am besten gefallen, weil mir das am nächsten ist, und vom Schweinehund her würde ich am liebsten in einer Punkrock-Band spielen, weil man da am meisten abgehen kann.“

Die Entstehung des Musik­geschmacks sei eine komplexe Angelegenheit, die noch immer nicht vollständig erforscht ist, sagt Timo Fischinger. „Einen wichtigen Einfluss haben sicherlich die Sozialisation, die Familie, die Peergroup und der kulturelle Kreis, in dem man aufwächst.“ Junge Kinder sind dabei gemeinhin noch sehr viel offener als Fünft- oder Sechstklässler, wie Studien zur „Offenohrigkeit“ zeigten, bei ­denen Schülern Hörbeispiele verschiedener Stilrichtungen ­vorgespielt wurden. „Ab einem gewissen Alter wollen die Kinder nicht mehr zugeben, dass sie „Die Zauberflöte“ toll ­finden, sondern dann muss es zum Beispiel Green Day sein, weil das der große Bruder hört“, sagt Fischinger. „Meine Vermutung ist, dass eine langfristige ­Offenohrigkeit vor allem in Familien existiert, in denen Kindern viele ­verschiedene musikalische Angebote gemacht werden. Dadurch werden sie in die Lage versetzt, eigene Vorlieben zu entwickeln.“

 

 

Die Musikvorlieben Heranwachsender können für Ältere mitunter verwirrend sein. „Vielen Jugendlichen ist es heute wichtig zu unterscheiden, dass sie nicht einfach Rock oder Metal hören“, sagt Timo Fischinger, „sondern zum Beispiel ‚Math­core‘ – eine Art mathematisch kon­struierter ­Heavy Metal.“ Diese Art der ­Diversifizierung habe in den vergangenen 20 bis 30 Jahren stark zugenommen und liege vermutlich auch an der großen Rolle, die Individualisierung in der heutigen Gesellschaft spielt. Für die Jugendlichen ist Musik dabei zentraler Teil der Identitätsbildung und ein ähnliches Unterscheidungsmerkmal wie etwa Kleidung. „Die Herausbildung des Musikgeschmacks ist ein anhaltender Prozess, der auch mit der Pubertät noch lange nicht abgeschlossen ist“, sagt Fischinger.

Reggae? Viel zu langweilig, viel zu nervig fand ich das langeJoshua, 17

Auch Joshua blickt nur noch ungern auf die Zeit zurück, in der er japanischen Pop und Rock hörte. „Ziemlich schräger Scheiß“, sei das gewesen, in einer „komischen Zeit“, wie der 17-Jährige sagt – „Pubertät und so.“ Und dass er mal zum Reggae-Fan werden würde, hätte er noch vor einigen Jahren selbst nicht gedacht: Viel zu langweilig, viel zu nervig fand er lange die Musik, die er über seine Eltern kennenlernte.

Die 17-jährige Berlinerin Lisa Doste glaubt, dass ihr Musikgeschmack vermutlich sogar schon vor ihrer Geburt beeinflusst wurde: „Meine Mutter hat viel Rock, Grunge und 80er-Musik gehört, als sie mit mir schwanger war. Auch später lief das ständig bei uns zu Hause.“ Sie hört heute am liebsten Deutschrock und bezeichnet sich als „extremen Fan“ der Band Die Ärzte. Auf der Suche nach neuer Musik hat Lisa Doste früher viel MTV und Viva geguckt, heute übernimmt YouTube diese Rolle. Mit Freunden tausche sie sich nur selten über Alben oder Künstler aus, sagt die 17-Jährige, es werde zwar eigentlich immer Musik gehört, „aber vor allem Sachen wie Reggae, die gut im Hintergrund laufen und wenig Aufmerksamkeit erfordern.“ Bewusster hört Lisa dann zu Hause Musik, gern auch zusammen mit ihrer Mutter. „Erst gestern Abend haben wir ein Ärzte-­Video nach dem anderen geguckt“, ­erzählt die Abiturientin.

 

 

Auch wenn sie bei musical.ly unter sich bleiben: Bei den heutigen Teenagern handele es sich um die erste Generation, die dieselbe Musik höre wie die Eltern, stellte die Sinus-Jugendstudie jüngst fest. ­Jeder dritte Jugendliche findet Gefallen daran, in der Familie gemeinsam Musik zu hören und zu tauschen. Dabei wurden die eigenen Musikvorlieben lange Zeit als Abgrenzung zu den Eltern verstanden. Auch Musikwissenschaftler Fischinger, Jahrgang 1974, erinnert sich, dass er „als Heranwachsender oft die Zimmertür zumachen musste“, wenn er Musik hörte. Umgekehrt fand er den Musikgeschmack seiner Eltern schrecklich, vor allem deren Abba-Kassetten, eine regelmäßige Urlaubsuntermalung, führte zu Streit. „Macht doch mal die Plastik­musik aus!“, rief der junge Fischinger damals seinen Eltern zu. Heute bemerkt der 42-Jährige, dass er Abba in manchen Momenten sogar ganz gern hört.

Wie Situationen und Stimmungen den Musikgeschmack beeinflussen, ist noch nicht abschließend ergründet. Was Studien aber bereits gezeigt haben: Mit der Musik, die wir in der ­Phase des Heranwachsens hören, verbinden wir auch später die intensivsten Erinnerungen; sie wird uns deswegen rückblickend immer am besten gefallen. Es seien vor allem die emotionalen Erlebnisse, die Musik einprägsam werden lassen, sagt Timo Fischinger, und die werden nun mal in der Jugend als besonders intensiv wahrgenommen.

Meine Lieblingsmusik? Das ist mir zu privat

Musik hat mir schon oft durch traurige Zeiten geholfen“, sagt Lisa Doste, „aber auch viele fröhliche Momente noch verstärkt.“ Diese Funktion macht das Musikhören zu einer individuellen, fast intimen Angelegenheit. Eine ihrer Freundinnen antworte nicht einmal auf die Frage nach ihrer Lieblings­musik, erzählt Lisa: „Das ist ihr zu privat.“

Wenn Joshua unterwegs ist, dann immer mit Kopfhörern. So oft wie möglich geht er zu Konzerten; beim ­Streamingdienst Spotify hat er einen Premium-Account. Nach der ­Schule will er unbedingt etwas mit Musik machen. „Das ist meine Bestimmung“, sagt der 17-Jährige, „auch wenn das albern klingt.“ In seinem Zimmer stehen zwei Bässe, ein Keyboard und ein Klavier – noch besser als Musik zu hören ist nur das Selbermachen, findet Joshua.

Laut der JIM-Studie macht heute knapp jeder Vierte zwischen zwölf und 19 Jahren selbst Musik – 1998 war es noch jeder Zehnte. Lisa Doste hat vor Kurzem an ihrer Schule in einem Musical mitgemacht und mitgesungen. Die App musical.ly nutzt sie bisher nicht: „Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir das etwas bringt.“ Statt reiner Lippenbewegungen will sie lieber selbst Töne produzieren: Momentan bringt sie sich mithilfe von YouTube-Tuto­rials das Ukulelespielen bei.



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