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Technologie und Schule – ein Irrtum

Neue Technologien wurden oft als Revolution des Unterrichts gefeiert. Später verstaubten die Geräte im Keller. Ist Lernen überhaupt revolutionierbar?


Smartphone, Tablet und Laptop auf der Schulbank, nicht ausgeschaltet, sondern in regem Gebrauch: Was anderswo verpönt ist, versüsste Schülern der 8. und 9. Jahrgangsstufe aus Moers zwei Jahre lang den Schulalltag. Die Schüler des Gymnasiums in den Filder Benden durften im Unterricht ihre eigenen Mobilgeräte nutzen – alles erlaubt im Rahmen des EU-Projektes InterReg und einer Studie der Universität Duisburg-Essen. „Bring your Own Device“ hieß das Konzept, kurz BYOD. Bei Bedarf konnten sie auch ein schuleigenes Gerät ausleihen. Über ein gesichertes WLAN nutzten die Schüler dann das Internet, suchten Antworten auf Unterrichtsfragen, tauschten stoffrelevante Bilder und Videos aus und sammelten Material für die Hausaufgaben.

Eine revolutionäre Idee – und ein logischer Schritt auf dem Weg, Schüler auf heutige Lebenswelten vorzubereiten. Viele Jugendliche besitzen ohnehin ein eigenes Smartphone oder andere Mobilgeräte und nutzen sie mit großer Selbstverständlichkeit privat. Technikbegeisterte und Bildungs-Start-Ups glauben deshalb an eine bevorstehende Revolution im Unterricht: Rechenleistung, Breitband-Versorgung und Algorithmen seien zur Anpassung an den einzelnen Schüler bereits so weit ausgereift, dass mobile Geräte Inhalte interessanter, individueller und lerngerechter vermitteln könnten als der klassische Vortrag durch einen Lehrer. Amplify, eine Tochter von Rupert Murdochs News Corp., hat bereits das erste marktreife Tablet vorgestellt, das den kompletten Lehrplan der meisten US-Bundesstaaten in Form von interaktiven Lektionen, Übungen und Prüfungen enthält. Für 199 Dollar pro Gerät und Jahr sollen Schüler damit den gesamten Kern-Stoff spielerisch lernen können, den sie bis zum 18. Lebensjahr beherrschen sollten. Werden Lehrer also bald nur noch Tablet-Klassen betreuen?

Eher nicht. Es gibt kaum eine technische Neuerung im Medienbereich, der nicht irgendwann auch zugetraut worden wäre, das Lernen zu revolutionieren. Gut 100 Jahre sind vergangen, seit Thomas Edison 1913 prophezeite: „Jeder Zweig menschlichen Wissens lässt sich mit bewegten Bildern lehren.“ Die damals aus der Taufe gehobene Technik des Films würde binnen weniger Jahre Schulbücher ersetzen und die Bildung revolutionieren, so seine Vorstellung. Ähnliches sagte man für das Radio und später das Fernsehen vorher: Lehrer würden durch diese Medien bald beliebig viele Schüler aus der Distanz unterrichten können, und das Lernen würde sich dadurch völlig verändern. Es folgten CD-ROM, Computer, DVDs und bald auch interaktive Medien, die alle große Hoffnungen schürten – und Ängste, je nach Perspektive. Letztendlich hat sich am Lernprozess selbst aber herzlich wenig geändert: Die Aufgabe, das Wissen so im Gedächtnis zu verankern, dass es bei Bedarf wieder abrufbar ist, blieb nach wie vor dem Schüler selbst vorbehalten. Keine der neuen Technologien in der Schule erwies sich als Nürnberger Trichter.

Einer der größten Schildbürgerstreiche im Deutschen Schulsystem war die breite Einführung so genannter Sprachlabors ab den 60er- Jahren des letzten Jahrhunderts. Schüler saßen an mit Tontechnik und Kopfhörern kostspielig ausgestatteten Hörplätzen, lauschten französischen und englischen Spracheinspielungen und sollten anschließend selbst ins Mikrofon sprechen. Der Lehrer konnte sich individuell zuschalten, beurteilen und gegebenenfalls korrigieren. Was von der Idee her einleuchtete, erwies sich in der praktischen Umsetzung aber als zum Scheitern verurteilt: Die Technik lenkte von den eigentlichen Inhalten ab und störte die Schüler eher beim Erlernen der Fremdsprache, als dass sie sie unterstützte. Die meisten Sprachlabors verschwanden denn auch bald wieder von der Bildfläche oder wurden zu Computerräumen umgewidmet.

Revolutionäre Technologien?

  • SPRACHLABOR
    Ab den 1960er-Jahren bekamen viele Schulen in Deutschland ein Sprachlabor. Jeder Schüler hatte einen eigenen Audio-Platz mit Kopfhörer und Mikrofon. Alle Schüler einer Klasse hörten und sprachen die Fremdsprachen-Lektionen gleichzeitig, dadurch kam der einzelne Schüler häufiger zum Sprechen. Der Lehrer konnte sich dazu schalten, bewerten und Fragen beantworten. Doch die Technik war kostspielig, wartungsintensiv und wenig kommunikativ. Die Labors wurden bald durch Computerräume ersetzt.

  • TELEKOLLEG
    Mit Hilfe von Fernsehsendungen, begleitenden Büchern und gelegentlichen Kollegtagen lernen Erwachsene Stoff, der normalerweise an höheren Schulen gelehrt wird. Dadurch sollen Berufstätige die Möglichkeit erhalten, die Mittlere Reife oder Fachhochschulreife zu erwerben. Nach einem Boom in den 70ern haben die meisten Bundesländer das Programm wieder gestrichen.

  • LIVE-ÜBERTRAGUNGEN
    Eine Schulstunde wird per Video-Stream in Echtzeit übertragen, etwa bei Heim- oder Krankenunterricht. Ähnlich ist der so genannte Backchannel, ein Twitter-ähnlicher Kanal, den Schüler während des Unterrichts live für Fragen, Antworten oder Themenvorschläge nutzen, auf die der Lehrer zeitnah eingeht.

  • COMPUTER-, LAPTOP-, TABLET-KLASSEN
    Jeder Schüler hat ein mobiles Endgerät, auf dem er Lernsoftware, Medien und in höheren Jahrgangsstufen auch Internetzugang nutzt. Neben der Vermittlung von Stoff können die Geräte auch bei kreativen Aufgaben eingesetzt werden, etwa bei Bildbearbeitung und Videoschnitt.

  • MOOCs für „Massive Open Online Course“: Der Stoff eines Universitätskurses wird mit Hilfe von Video-Lektionen, weiterführenden Materialien und interaktiven Quiz-Elementen aufbereitet und ist online einer breiten Teilnehmerschaft zugänglich. Foren, örtliche User-Treffen und gegenseitiges Korrekturlesen von Aufgaben sollen die Interaktion zwischen den Nutzern erhöhen.

  • INTERAKTIVE WHITEBOARDS
    Ein Monitorbild wird auf eine weiße Tafel projiziert und kann dort durch Gesten oder Stifte bedient werden, einschließlich Schrifterkennung und Speicherung als Textdatei. Trotz aller Hightech-Möglichkeiten ist meist zusätzlich eine herkömmliche Tafel im Einsatz.

Im heutigen Schulalltag finden sich zwar zahlreiche technische Hilfsmittel, um Grafiken, Videos und Präsentationen in den Unterricht einzubinden, vom Laptop mit Beamer bis zu interaktiven Tafeln, auch Smartboards genannt. Doch kaum jemand würde hier von einer Revolution des Lernens sprechen. Als Werkzeug, das den Lehrer bei der Vermittlung von Inhalten unterstützt, hat Technik durchaus ihren Stellenwert und wird auch gerne im Unterricht eingesetzt. Die Grenze scheint dort zu liegen, wo die Technik in den direkten Austausch zwischen Lehrer und Schüler eingreift und ihn beeinflusst oder behindert. Dann rührt sie an den eigentlichen Kern des Lehrens, nämlich die persönliche Unterstützung, die den Schüler beim Lernen begleitet und anspornt.

Die bisher letzte Versuch einer Bildungsrevolution vollzog sich im universitären Bereich mit dem Aufstieg und Fall der „Massive Open Online Courses“, kurz MOOCs. Diese kostenlosen Online-Seminare sollen akademisches Wissen einer großen Zahl Interessierter vermitteln, mit Hilfe von Videos, Tutorials, Foren und interaktiven Elementen. Obwohl große Anbieter wie Coursera oder die deutsche Iversity Millionen von Teilnehmern verbuchen, liegt die Abschlussquote meist nur im einstelligen Bereich. Wissensvermittlung so ganz ohne persönlichen Kontakt scheint also selbst bei Hochschul-Studenten nicht ausreichend zum Lernen zu motivieren.

Ein ähnliches Prinzip, allerdings auf Schulniveau, verfolgt die Khan-Academy. Ihr Gründer, der ehemalige Hedge-Fund-Manager Salman Khan, sah sich in der Pflicht, seiner entfernt lebenden 12-jährigen Cousine Mathe-Nachhilfe zu erteilen, erstellte dazu kurze Videos und veröffentlichte sie später auch auf YouTube. Bald wuchs die Schar der Abonnenten, Khan gründete eine eigene Plattform, und Bill Gates finanzierte das Bildungsprojekt gemeinsam mit anderen Philantropen. Inzwischen besteht ein Fundus aus Tausenden von Online-Lektionen, die mathematischen, physikalischen und anderen naturwissenschaftlichen Schulstoff nicht nur erklären, sondern mit Hilfe von zu lösenden Problemen und Punkte-Belohnungen auch einüben helfen.

Einige Schulen, darunter die Egan Junior High in Palo Alto im kalifornischen Silicon Valley, setzen verstärkt auf Material der Khan-Academy und haben den Mathe-Unterricht komplett umgestellt, in Form eines „flipped classroom“: Die Schüler lernen den Stoff zunächst selbständig zu Hause auf dem Tablet. Dabei helfen die mit Spielen und Punkten angereicherten Vorträge der Khan-Academy. In der Schule vertieft der Lehrer dann den Stoff, prüft den Wissenstand und übt die Anwendung, also das, was normalerweise durch Hausaufgaben abgedeckt wird. Durch die Tablet-Technik kann er an einem zentralen Gerät sehen, wer wie weit ist und wo Probleme bestehen. Der Lehrer kann dann sofort individuell weiter helfen, bis der Verständnisknoten aufgedröselt ist: individuelles Coaching statt Frontalunterricht.

Wenn Technik überhand nimmt, stört sie den Unterrichtsablauf

Das zeigt: Neue Technologien in der Schule haben durchaus Potential, die Klassenzimmer der Zukunft grundlegend zu verändern. Aber das Lernen selbst werden sie trotzdem nicht revolutionieren, aus einem einfachen Grund: Wenn die Technik überhand nimmt, stört sie den Unterrichtsablauf. Sie bindet Aufmerksamkeit, nimmt den Schülern einen Teil der Denkleitung ab und stellt sich letztendlich zwischen Lehrer und Schüler. Und damit rührt sie an den eigentlichen Kern des Lernens, nämlich das Abschauen von den Älteren, die persönliche Unterstützung durch den Lehrer, der den Schüler begleitet und anspornt.

Wenn es hingegen gelingt, neue Möglichkeiten so zu nutzen, dass dieses Band nicht abreißt, sondern gestützt oder sogar – wie beim „flipped classroom“ – intensiver wird, dann hat die Technik gute Chancen, dauerhaft in den Unterricht übernommen zu werden. Das zeigen auch die Erfahrungen, die Schüler und Lehrer am Gymnasium in den Filder Benden machten. Beim Fazit nach zwei Jahren Smartphone im Unterricht zeigte sich, dass die Schüler nicht nur gelernt hatten, ihre eigenen mobilen Geräte im Unterricht sinnvoll zu nutzen, sondern auch allgemein über digitale Medien und Mobiltechnik besser Bescheid wussten. Zusätzlich profitierte die gesamte Schule von dem Versuch, denn inzwischen helfen mehrere der Schüler als Medienscouts dabei, ähnliche Projekte auch in anderen Klassen umzusetzen.

Internet-Tipp

Da die Schüler ihre Mobilgeräte ohnehin meist täglich nutzen, ist es sinnvoll, diese Realität auch in den Unterricht einzubringen. Das überbrückt den digitalen Graben zwischen Schule und Privatleben und fördert zudem die Medienkompetenz. Eine bevorstehende Revolution des Unterrichts lässt sich daraus aber nicht ableiten. Denn der findet nach wie vor von Mensch zu Mensch statt: um zu motivieren, zu inspirieren, Neugierde zu wecken und in die richtigen Bahnen zu lenken. Genau wie bisher.



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