Denken & Diskutieren

Inklusion – eine Heile-Welt-Utopie? Jein

Dass behinderte und nicht ­behinderte Schüler gemeinsam lernen, finden fast alle gut. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis ist die Umsetzung nicht einfach. Damit ­Inklusion gelingt, braucht es viel ­Engagement, multiprofessionelle Teams, ein ­Bekenntnis der Schulen – und ­zusätzliche Mittel und Ressourcen


Eigentlich ist Inklusion in der Schule eine schöne Idee: Alle Kinder lernen zusammen, ob mit oder ohne Handicap, aus armen Verhältnissen, mit Migrationshintergrund, ob still, verhaltensauffällig oder hochbegabt. Jedes Kind bekommt die Unterstützung, die es braucht, jedes lernt entsprechend seinen Voraussetzungen. Alle zusammen bilden eine Gemeinschaft, in der man seine Stärken einbringt, sich gegenseitig hilft, sich besser kennenlernt und wertschätzt. Dabei geht es trotz großer Vielfalt auch im Lehrplan voran: Die Schwächeren lernen von den Stärkeren, die Stärkeren festigen den Stoff beim Erklären, und im End­resultat werden alle besser.

Die heile Welt, manchmal funktioniert sie doch

Das klingt nach Heile-Welt-­Utopie, und doch gibt es einige Beispiele, bei ­denen Schule genau so funktioniert: Die Berliner Fläming-Grundschule war die erste Schule, die so ein Konzept 1975 auf Initiative einer Elterngruppe umsetzte. Die Auswirkung ihres Inklusionsprinzips lässt sich eindrucksvoll im Dokumentarfilm „Klassenleben“ von Hubertus Siegert bestaunen. Die Laborschule in Bielefeld setzt auf ein ähnliches Konzept, nimmt Kinder mit und ohne Förderbedarf auf und unterrichtet sie mit großem Erfolg gemeinsam in wechselnden integrativen Lerngruppen. Und in der Martinschule in Greifswald ist fast die Hälfte der Schüler geistig oder körperlich beeinträchtigt, dennoch liegt die Schule im Leistungsvergleich weit über dem Landesdurchschnitt und gewann heuer den Deutschen Schulpreis für ihr gelungenes Inklusionskonzept.

Wenn Inklusion behördlich angeordnet wird, führt sie häufig zum Scheitern

Diese Positivbeispiele zeigen, wie gut Inklusion funktionieren kann. Sie zeigen aber auch, dass dazu in der Regel ganz besondere Begleitumstände nötig sind: ausreichende Mittel und Ressourcen, passende Räumlichkeiten, ein motiviertes und gut geschultes Kollegium, Vernetzung in multiprofessionellen Teams aus Schul­psychologen, Sozialarbeitern, Integra­tionshelfern – und vor allem ein Bekenntnis der ganzen Schule zur Inklusion. Wenn Inklusion stattdessen nur behördlich angeordnet wird, in Regelschulen ohne Erfahrung und ohne die passenden Voraussetzungen und Ressourcen, führt sie häufig zum Scheitern: zu ineffektivem Unterricht, zu überforderten Lehrern und im Extremfall sogar zu einer Klage.

Das Bremer Gymnasium Horn hatte­ sich im Jahr 2018 juristisch dagegen ­gewehrt, im neuen Schuljahr eine Inklu­sionsklasse mit fünf Förderschülern einzurichten. Die Klage wurde abgewiesen, mit dem Hinweis darauf, dass die Einführung der inklusiven Beschulung an ­allen Bremer Schulen rechtsverbindlich sei und sich folglich auch Gymnasien daran ­beteiligen müssten, selbst bei gehobenen Leistungsanforderungen. Es gehe nicht darum, dass Förderschüler Abiturstoff lernen, sondern um soziales Lernen, um die Vermittlung von Werten und Rechten.

89 Prozent der Eltern befürworten Inklusion

Bei Eltern stößt Inklusion mehrheitlich auf Zustimmung, wie die „JAKO-O-Bildungsstudie“ zeigte. Je nach Art der Behinderung befürworten Eltern gemeinsames Lernen: mit körperlich beeinträchtigten Kindern zu 89 Prozent, bei Lernschwierigkeiten zu 71 Prozent, bei verhaltensauffälligen Kindern zu 49 Prozent und bei geistig behinderten Kindern immerhin noch zu 41 Prozent.

Dass Behinderte Zugang zu Regelschulen haben, ist eine der Hauptforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention, zu deren Umsetzung sich Deutschland verpflichtet hat. Das bisherige System, das Kinder mit Förderbedarf an Sonderschulen überweist und dort getrennt von Regelschulen betreut, soll deutlich eingeschränkt werden: Gemeinsamkeit statt Separation ist das Ziel. Wie weit wir davon noch entfernt sind, zeigen die lebhafte Diskussion und die Spanne an Meinungen, wie Inklusion am besten zu verwirk­lichen sei – von der sporadischen Integration behinderter Schüler an Regelschulen bis hin zur völligen Neuausrichtung von Bildung und Gesellschaft, in der die gemeinsame Vielfalt alles Genormte ersetzt. Jedenfalls wird Inklusion „die Schulen in Deutschland langsam, aber stetig verändern“, wie Katja Irle im Vorwort zu ihrem Buch „Wie Inklusion in der Schule ­gelingen kann“ schreibt. Nötig sei jedoch ein Perspektiv­wechsel aller Beteiligten.

Die größte Herausforderung ist oft die soziale Integration

Das zeigt auch der Fall der blinden Schülerin Lisa, die nach einem Umzug in die 10. Klasse eines norddeutschen Gymnasiums kam. (Mehr dazu hier.) Dass das Mädchen trotz guten Willens von Lehrern und Mitschülern in der neuen Schule die Oberstufe nicht weiterführte, lag wohl weniger an fehlenden Ressourcen. Es gab eine enge Betreuung durch ­einen Förderlehrer, eine Schulbegleitung und umfangreiche technische Unterstützung, vom Brailledrucker und Laptop mit Braillezeile bis zum taktilen Zeichenbrett.

Viele Kinder vereinsamen regelrecht und gewöhnen sich an den Status des Sonderlings

„Die größte Herausforderung bei blinden Schülern ist die soziale Integration“, sagt Veronika Dannert vom Sehbehinderten- und Blinden-­Zentrum in Unterschleißheim bei München. „Viele Kinder vereinsamen regelrecht und gewöhnen sich im Laufe der Zeit an den Status des ‚Sonderlings‘. Oft sind erwachsene Betreuer mit dem blinden Kind beschäftigt, das erschwert noch zusätzlich den direkten Kontakt zu Mitschülern.“ Das Lernen selbst sei in den frühen Jahrgangsstufen nicht unbedingt das Problem, wenn es fachlich begleitet wird und das Kind die Blindentechniken gut beherrscht. „Ein wesentlicher ­Aspekt gelungener Inklusion ist auch das Angebot der Förderzentren und mobilen Dienste: spezielle Schülerkurse, in denen nicht nur die blindenspezifischen Techniken und Inhalte vermittelt werden, sondern eine Begegnung mit anderen Blinden möglich ist.“

Auf Lehrerseite sei die innere Einstellung wichtig: „Im Unterschied zu Sonderpädagogen denken viele Regelschullehrer vom Stoff her und nicht vom Kind her“, sagt Dannert. Wenn der Stoff im Mittelpunkt stehe, gelinge es weniger gut, die Stärken und Neigungen der einzelnen Schüler zu erkennen und so zu fördern, dass die Lernmotivation erhalten bleibt. „Der Stoff sollte für den Lernenden zurechtgerückt werden und nicht umgekehrt. Dies ist im Unterricht mit behinderten Kindern besonders entscheidend.“

Klar ist: Der Unterricht muss anders werden

Lehrkräfte, die erstmals mit blinden Kindern zu tun haben, müssen oft ihren Unterricht umstellen, passende Materia­lien suchen, Versuche neu planen. „Das ist eine große ­Herausforderung für Lehrkräfte, weil sie es so ja nicht gelernt haben“, sagt Dannert. Ihre Institution bietet jährliche Fortbildungen an, bei denen Kollegen geschult werden, etwa durch Hospitationen, Selbsterfahrungen, Workshops und Vorträge. „Eine große ­Hürde ist, die Bereitschaft der Lehrer und der Schul­leitung zu gewinnen“, bestätigt Alexander Mühlegg vom Blindeninstitut München. „Viele können sich ­zunächst nicht vorstellen, wie das gehen soll. Aber durch Aufklärung und tech­nische Unterstützung gelingt es dann oft, diese Hemmschwelle zu überwinden. Gerade im Bereich von Sehbehinderung und Blindheit ist Inklusion dank technischer Hilfsmittel eigentlich kein Problem mehr. Aber man braucht dafür einen Nährboden: eine Schule, die da mitgehen kann und will. Dann ist das gut machbar.“

Inklusion ist kein Status, den man irgendwann erreicht hat

Tatsächlich sind Schulen eher bereit, Kinder mit Förderbedarf Sehen aufzunehmen, wenn sie schon Erfahrung ­damit haben. „Inklusion ist kein Status, den man irgendwann erreicht hat, sondern ein Entwicklungsprozess“, sagt Inklusionsexperte Andreas Hinz von der Universität Halle-Wittenberg im Interview mit Katja Irle. „Im Laufe dieses Prozesses lernt eine Schule immer besser, mit den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer Schüler umzugehen.“ Das werde auch für Schulen mit gehobenen Leistungsanforderungen wie etwa für das Bremer Gymnasium Horn gelten.

Für die betroffenen Schüler selbst ist das allerdings nicht immer der Fall. Maria Gerber, MSD-Koordinatorin Förderschwerpunkt Sehen, erinnert sich an einen blinden Schüler, der auf einem Gymnasium ein hervorragendes Abitur machte. Als sie ihm bei einem Ehemaligentreffen zu den guten Noten gratulierte, sagte er: „Naja, wenn man nirgends eingeladen wird, zu keinem Geburtstagsfest oder sonstigen Treffen, dann setzt man sich halt hin und lernt.“ Es zeigte sich, dass er trotz des hervorragenden Abschlusses in der Schule kaum Anschluss gefunden hatte. „Das ist für mich auch keine Inklusion“, sagt Gerber.



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