Gastbeitrag

Sitzenbleiben schadet Kindern – und ist teuer für uns alle

Klassenwiederholungen sind aus der Schule nicht wegzudenken. Seit es sie gibt, wird über den Sinn des Sitzenbleibens gestritten. Mittlerweile verdichtet sich die Datenlage zu einem Gesamtbild – und das sieht nicht gut aus. Ein Gastbeitrag


Wenn ein Kind in zwei Fächern mangelhafte Noten hat, wird es eng: In allen deutschen Bundesländern können Schülerinnen und Schüler aufgrund schwacher Leistungen dazu verpflichtet werden, ein Schuljahr zu wiederholen. Sie müssen ihren Klassenverband verlassen und fortan mit den nachrückenden, ein Jahr Jüngeren lernen. Für viele Kinder und Jugendliche ist das ihre ganze Schulzeit lang eine große Sorge. Und eine unnötige noch dazu: Denn Sitzenbleiben schadet in den meisten Fällen mehr, als es nützt – und es ist zudem teuer für uns als Gesellschaft. Das zeigt ein Blick auf den Stand der Wissenschaft.

Sitzenbleiben soll Zeit geben – und die bisherige Klasse entlasten

Die Befürworter von Klassenwiederholungen als pädagogische Maßnahme versprechen sich in der Regel davon, dass die betroffenen Schülerinnen und Schüler durch das Wiederholen der Unterrichtsinhalte ihren Lernrückstand aufholen. Auf diesem Weg sollen sie die Chance haben, im Lernstoff wieder Anschluss zu finden. In einigen Fällen erlaubt eine Klassenwiederholung auch, die Schulform zu sichern, also den Schulwechsel auf einen „niedrigeren“ Schulzweig (etwa vom Gymnasium auf die Realschule) zu vermeiden.

Unser Schulsystem ist auf homogene Lerngruppen ausgerichtet

Doch das individuelle Aufholen von Lernrückständen ist nicht das einzige Ziel von Klassenwiederholungen. Darüber hinaus soll der Ausschluss leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler aus dem Klassenverband auch ein höheres Leistungsniveau in der ursprüngliche Klasse ermöglichen. Unser deutsches Schulsystem ist auf homogene Lerngruppen ausgerichtet. Verlassen die schwächsten Kinder die Klasse, werden die Leistungsunterschiede unter den verbliebenen geringer.

Bei Klassenwiederholungen ist Deutschland in der EU-Spitze

In Deutschland sind Klassenwiederholungen während der Grundschulzeit möglich, jedoch eher die Ausnahme. In der Sekundarstufe wird die Versetzung in die nächste Klasse durch das Leistungsniveau des Schülers oder der Schülerin bestimmt. Es gibt jedoch deutliche Unterschiede in den Regelungen und der Versetzungspraxis zwischen den verschiedenen Bundesländern. In Berlin beispielsweise sind Klassenwiederholungen nur in Ausnahmefällen erlaubt. Bayern dagegen hat die höchste Wiederholerquote in ganz Deutschland: Im Schuljahr 2022/2023 haben dort 4,1 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Klasse wiederholt.

Prof. Dr. Florian Klapproth – Magazin SCHULE
Florian Klapproth ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Medical School Berlin. Dort beschäftgt er sich unter anderem mit pädagogischen Urteilsprozessen wie z. B. Notengebung, Übergangsempfehlungen und Versetzungsentscheidungen sowie dem Einfluss von Stereotypen auf Entscheidungen von Lehrkräften. Zurzeit arbeitet er in einer europäischen Arbeitsgruppe zur Analyse von Klassenwiederholungen.

Nach aktuellen Daten aus der PISA-Studie 2022 haben in Deutschland knapp 20 Prozent aller 15-jährigen Schülerinnen und Schüler mindestens einmal eine Klasse wiederholt. Damit belegt Deutschland einen Spitzenplatz in Europa. Nur drei Länder  – Belgien, Niederlande und Spanien – weisen höhere Wiederholerraten auf.

Sitzenbleiben ist nachweislich pädagogisch schädlich

Die durchschnittliche Auswirkung einer Klassenwiederholung ist negativ, wie diverse Studien zeigen. Das Ausmaß des negativen Effekts lässt sich so formulieren: Im Vergleich mit ähnlich leistungsstarken Schülerinnen und Schülern, die versetzt werden, erzielen die Wiederholenden ungefähr drei Monate weniger Fortschritt in ihren schulischen Leistungen über den Verlauf eines Schuljahres. Damit ist die Klassenwiederholung eine der wenigen pädagogischen Maßnahmen, die nachweislich schädlich ist – zumindest im Durchschnitt.

Wiederholer nehmen häufiger Drogen und verdienen später weniger

Es liegen auch Hinweise darauf vor, dass sich Klassenwiederholungen negativ auf das Gesundheitsverhalten (z. B. Drogenkonsum) und die weitere Bildungskarriere der Schülerinnen und Schüler auswirken. So brechen Schülerinnen und Schüler ihre Schullaufbahn häufiger vorzeitig ab, erleben eher eine weitere Klassenwiederholung und erlangen weniger lukrative Berufe als ihre Mitschüler, die keine Klasse wiederholt haben.

Die durchschnittliche Gesamtauswirkung ist also negativ. Trotzdem legen einige Studien nahe, dass Schülerinnen und Schüler unter bestimmten Umständen von einer Klassenwiederholung profitieren können. Zum einen als kurzfristiger Effekt: Die Schulnoten sind häufig in dem Jahr, das wiederholt wird, besser als im Jahr davor, so dass die Betroffenen unmittelbar nach der Wiederholung einen Leistungsgewinn verbuchen können. Allerdings hält dieser Vorsprung nicht lange an: Bereits ein weiteres Jahr später ist die positive Wirkung der Wiederholung verpufft.

Zum anderen kann Sitzenbleiben in Schulsystemen wirkungsvoll sein, in denen eher ein Gesamtschulansatz vorherrscht: Und zwar dann, wenn Wiederholungen mit konkreten Fördermaßnahmen verknüpft sind und nicht ausschließlich aus dem bloßen Wiederholen eines Schuljahres bestehen.

Wiederholen verfestigt Bildungsungerechtigkeiten

Liegen die Schulnoten in den Hauptfächern unterhalb der Bestehensgrenze (sind die Leistungen also „mangelhaft“), kann in Deutschland die Klassenkonferenz beschließen, dass eine Schülerin oder ein Schüler eine Klasse wiederholen muss. Es gilt also scheinbar das Leistungsprinzip. Doch tatsächlich bestimmt nicht nur Leistung darüber, ob jemand eine Klassenwiederholung antreten muss. Zahlreiche Studien belegen, dass auch leistungsfremde Faktoren die Entscheidung von Lehrkräften in Richtung Klassenwiederholung beeinflussen. Jungen zum Beispiel haben bei gleicher Leistung ein höheres Risiko für eine Klassenwiederholung als Mädchen, ebenso Kinder mit Migrationshintergrund und Schülerinnen und Schüler, deren Eltern ein geringes Einkommen haben. Damit trägt Klassenwiederholung auch zur Verfestigung von Bildungsungerechtigkeiten bei.

Auch freiwilliges Wiederholen hat langfristig keine Vorteile

In den meisten Bundesländern ist zudem das freiwillige Wiederholen auf Antrag der Eltern erlaubt. Ganz so freiwillig ist auch das freilich nicht, da auch der freiwilligen Wiederholung eher schlechte Schulleistungen zugrunde liegen und die Leistungsdefizite verringert werden sollen. Gründe für eine freiwillige Wiederholung können auch längere Fehlzeiten sein. Sie wird eher als die verordnete Wiederholung von den betroffenen Schülerinnen und Schülern als „zweite Chance“ aufgefasst. Dennoch zeigt auch das freiwillige Wiederholen nach aktueller Studienlage zumindest mittel- und langfristig keine Vorteile für die Schülerinnen und Schüler.

Sitzenbleiber kosten uns eine Milliarde Euro – pro Jahr!

Schülerinnen und Schüler, die eine Klasse wiederholen, werden in der Regel ein Jahr länger unterrichtet. Eine Untersuchung des Erziehungswissenschaftlers Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung hat 2009 ergeben, dass die Bundesländer für Klassenwiederholungen etwa 1 Milliarde Euro ausgeben – pro Jahr. Damit ist das Sitzenbleiben eine sehr teure pädagogische Maßnahme. Zu diesen von der Gesellschaft zu tragenden Kosten kommen noch die individuellen Kosten in Form eines verspäteten Berufseintritts hinzu – und damit wiederum geringere Zahlungen an Steuern und in die Sozialkassen unseres Staates.

Das Ziel muss sein, dass alle Kinder das Klassenziel erreichen

Angesichts der negativen Auswirkungen von Klassenwiederholungen auf die Schülerinnen und Schüler kann man Schulen nicht empfehlen, auf Sitzenbleiben zu setzen. Unter besonderen Umständen kann es für einen Schüler oder eine Schülerin vorteilhaft sein, ein Jahr zu wiederholen, beispielsweise wenn er oder sie aufgrund von Krankheit oder anderen Gründen eine längere Zeit den Schulunterricht versäumt hat. Doch auch in diesem Fall ist es entscheidend, dass die Wiederholung durch zusätzliche Unterstützungs­maßnahmen flankiert wird.

Zusätzliche Lernzeit kann helfen – auch in den Schulferien

Grundsätzlich jedoch sollten Lehrkräfte und Schulen alternative Maßnahmen in Betracht ziehen, um Schülerinnen und Schüler zu unterstützen. Das Ziel sollte nicht sein, die Schwächeren auszusortieren – sondern zu erreichen, dass alle Lernenden ihr Klassenziel erreichen. Eine wichtige Maßnahme dafür ist, den Leistungsschwachen zusätzliche Lernzeit anzubieten. Ein solches Lernangebot kann auch außerhalb des regulären Unterrichts erfolgen (zum Beispiel in den Schulferien). Außerdem können Methoden der Binnendifferenzierung (beispielsweise differenzierte Arbeitsaufträge, individuelle Lernzielgestaltung) dazu beitragen, dass jede Schülerin und jeder Schüler bestmöglich gefördert wird.



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