Serie "Bildungsfern? Bildungs-anders!" - Magazin SCHULE
Denken & Diskutieren

Bildungsfern? Bildungs-anders!

Kinder aus Familien mit geringer formaler Bildung haben es schwer in der Schule – noch mehr, wenn die Familie eine Migrationsgeschichte hat. Was Gründe dafür sind und wie man sie ändern kann, zeigt das Online-Magazin SCHULE in einer Artikel-Serie


Wenn Eylem Emir und Heidemarie Brosche zusammensitzen, dreht sich das Gespräch schnell um Schüler und deren Eltern. Das ist nicht ungewöhnlich, denn Eylem ist Erzieherin an einer Augsburger Schule, und Heidemarie hat dort jahrelang als Lehrerin unterrichtet. Und doch sind ihre Themen andere als bei vielen Kolleginnen aus anderen Einrichtungen, denn sie handeln meist von dem, was Wissenschaftler als die größte Schwäche unseres Bildungssystems ausgemacht haben: den Schwierigkeiten so genannter „bildungsferner“ Familien mit unseren Schulen.

„Ich kann nicht mehr“, hat beispielsweise neulich eine Mutter Emir entgegengeschleudert: „Die Schule will und will, und ich weiß nicht mal, was sie will, weil ich das alles nicht verstehe.“ Damit hat die Mutter das Problem schon recht genau skizziert: Die einen erwarten etwas, das die anderen nicht leisten (können). Doch wenn zwei Parteien, die einander nicht ausweichen können, sich konstant aneinander reiben, kostet das Energie und Kraft. Die Eltern fühlen sich ausgepowert – und die Lehrkräfte auch.

Ausschnitt Bildungsdschungel – Alles so anders hier – Magazin SCHULE
Beide Seiten müssen mehr über die jeweils andere wissen, damit Bildungsintegration besser gelingen kann

Bildungsferne Familien und Schule: Kein Mensch ist ohne Bildung

Die Grund- und Mittelschule, von der die beiden sich kennen, liegt in einem Brennpunkt. Etwa 90 Prozent der Schülerschaft stammen aus Familien, die ihre Wurzeln nicht in Deutschland haben – und oft auch noch nicht lange hier sind. Eylem Emir und Heidemarie Brosche kennen die Schwierigkeiten, vor denen Kinder und deren Lehrkräfte stehen, wenn in Familien das, was die Mehrheit der Deutschen unter Bildung versteht, fern ist. Und sie wissen zugleich auch, dass der viel verwendete Begriff „bildungsfern“ für diese Familien trotzdem in die Irre führt: Denn kein Mensch ist ohne Bildung – aber jede Kultur, jede Umgebung hat ihre eigene Vorstellung davon, welches Wissen und welche Kenntnisse für sie wichtig sind.

Wer innerhalb einer solchen Gemeinschaft erfolgreich sein will, muss sich ihre Normen aneignen. Gleichzeitig hängt jedoch der Erfolg der Gemeinschaft als Ganzes auch davon ab, dass ihre Mitglieder gemeinsame Normen teilen und akzeptieren. Bildungsintegration muss daher in beide Richtungen wirken, um zu gelingen. Und das ist in Deutschland zu selten der Fall.

Emir und Brosche sind überzeugt, dass ein großer Teil der Probleme von so genannten bildungsfernen Familien und Schulen aus einer schlichten Tatsache resultiert: Jede Seite weiß zu wenig von der jeweils anderen – und so entsteht ein Nährboden für Missverständnisse und ablehnende Einstellungen. Deshalb haben sie eine Serie von Artikeln für das Magazin SCHULE geschrieben, in der sie die Situation von Familien und Lehrkräften in ihrem schwierigen Bildungsumfeld so aufzeigen, wie sie sie aus langjähriger Erfahrung kennen.

"Ach so!" - Der Podcast für mehr interkulturelles Verständnis - Magazin SCHULE
Ach so! – Der Podcast für mehr interkulturelles Verständnis: In diesem Podcast erklären Heidemarie Brosche und Eylem Emir die Inhalte der Serie „Bildungsfern? Bildungs-anders“ im Gespräch mit Moderatorin Marion Buk-Kluger. Hier reinhören

Einige wichtige Vorbemerkungen haben sie dazu:

  • Lehrkräfte und Eltern sind sich oft bildungs-fremd
    Auch wenn an Schulen zunehmend Frauen und Männer aus Familien mit Migrationsgeschichte oder wenig formaler Bildung unterrichten, so gilt dennoch: Wer der Schüler- und Elternschaft hierzulande als Lehrkraft gegenübertritt, hat nach der eigenen Schulzeit, dem Abitur und einem Studium oder einer Ausbildung zwangsläufig das, was wir in Deutschland allgemein „Bildung“ nennen. Sicher haben es Lehrkräfte mit Wurzeln in einer anderen Kultur leichter, sich in zugewanderte Schüler und Eltern hineinzuversetzen. Und Lehrkräfte, die selbst eher ohne klassische Bildung groß geworden sind, erinnern sich oft noch intensiv an ihre Kindheit im „anderen“ Milieu. Aber dennoch leben sie inzwischen seit Jahren in der Welt der Menschen mit allgemein akzepierter Bildung.
    Die Personen ohne diese Art von Bildung wiederum leben so selbstverständlich in der ihren, dass sie das nicht unbedingt als Mangel empfinden. Sie kennen es nicht anders. Einen Mangel empfinden sie vielleicht in Bezug auf Geld oder Privilegien, aber nicht in Bezug auf gesellschaftskonforme Bildung. Sie lechzen nicht danach, in den Kreis der erlauchten „Bildungsbürger“ aufgenommen zu werden. Wenn sie zu uns geflüchtet sind, wollen sie in der Regel im für sie fremden Land in Frieden und Freiheit einigermaßen gut leben und das urmenschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigen, indem sie sich mit Menschen umgeben, die ähnlich ticken wie sie selbst.
  • „Oben“ und „Unten“ gibt es nicht
    Entgegen so mancher abfälliger Bemerkungen sind „die“ so genannten Bildungsfernen nicht unten, sondern schlicht anders. Es gibt keinen Grund, dass sich Menschen mit formaler Bildung über jene ohne erheben dürften. Alles ist relativ – wie der alte Film „Zustände wie im Paradies“ eindrucksvoll zeigt: Hier drehen sich die Verhältnisse durch einen Schiffbruch sehr schnell um, und die, die erst oben, nämlich fein und aristokratisch waren, dienen schließlich dem ehemaligen Butler, der mit den neuen Umständen sehr viel besser zurechtkommt, für Nahrung sorgt und Gefahren abwendet. Viele neue Mitbürger haben uns in bestimmten Bereichen etwas voraus – aufgrund ihrer Erfahrungen in der Heimat oder auf der Flucht. Das wird nur allzu leicht vergessen, weil es im Kontext Schule nicht zum Tragen kommt.
  • In der Schule prallen Welten aufeinander
    Im privaten Leben treten die beiden Seiten selten intensiv in Kontakt. In der Schule jedoch prallen sie aufeinander. Sie können dem Aufprall noch nicht einmal ausweichen. Und was da prallt, sind nicht nur Menschen aus unterschiedlichen Welten, sondern auch unterschiedliche Erwartungen der einen an die jeweils anderen.
    In der Schule aber sind die Hauptpersonen die Kinder und Jugendlichen. Sie tragen nicht die Verantwortung für all die Reibungen, und sie können nur dann wertvolle Mitglieder dieser Gesellschaft werden, wenn es in der Schule möglichst gut läuft. Für dieses Ziel sollten sich beide Seiten engagieren, Lehrkräfte und Eltern.
  • Familien mit Migrationsgeschichte sind sehr unterschiedlich
    Sie unterscheiden sich unter anderem darin, aus welcher Gegend der Welt sie stammen, welchen sozialen Status sie in ihrer Heimat hatten, wie viel und welche Bildung sie erhalten haben und und welche Traditionen sie mitbringen. Sehr viele kommen in Deutschland gut zurecht. Aber immer wieder stehen Lehrkräfte in den Schulen auch vor ähnlichen Problemen, die mit dem kulturellen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler zu tun haben – davon handeln die Artikel der Serie.

Damit Bildungsintegration besser gelingen kann, zeigt die Serie „Bildungsfern? Bildungs-anders!“ wichtige Bereiche des privaten und schulischen Lebens, die häufig Missverständnisse und Probleme hervorrufen:

 

1. Was ist Bildung?

Bildungsferne Familien und Bildung: "Dinadrei, was soll das sein?" – Magazin SCHULE

„Dinadrei, was soll das sein? In einigen Familien spielt das, was in Deutschland üblicherweise als Bildung gilt, kaum eine Rolle. Für die Kinder aus solchen Haushalten ist das in der Schule eine schwere Bürde. Zum Artikel

 

2. Vielen Kindern fehlt die Medienkompetenz

Die Corona-Pandemie hat es noch einmal gezeigt: Viele Schülerinnen und Schüler wissen nicht, wie sie elektronische Medien sinnvoll einsetzen können. Statt dessen halten Smartphone und Fernseher gerade jene Kinder vom Lernen ab, die es am nötigsten hätten. Wer das ändern will, muss auch die Eltern einbeziehen. Zum Artikel

 

3. Die Scheu vor den Büchern

Lesen als Last – Magazin SCHULE

Lesen als Last: Weniges ist für den Schulerfolg in Deutschland so wichtig wie die Fähigkeit, Texte sicher und schnell zu verstehen. Doch in vielen Familien spielt das Lesen im Alltag kaum eine Rolle – auch weil sich die Eltern selbst damit schwer tun. Von ihnen können Lehrkräfte bei der Leseförderung kaum Unterstützung erwarten. Zum Artikel

 

4. Welche Rolle hat die Lehrkraft?

Bildungsfern? Bildungs-anders! Rolle der Lehrkraft

„Bin ich etwa die Lehrerin?“ Manche Schülerinnen und Schüler verhalten sich respektlos gegenüber Lehrkräften. Das kann daran liegen, dass ihre Familien ein völlig anderes Bild von Schule haben, als es in Deutschland gelebt wird. Zum Artikel

 

 

5. Kollektivismus: Wenn das „Ich“ nichts zählt

Serie "Bildungsfern? Bildungs-anders!" – Kollektivismus

„Mach du das für mich!“ Selbstständigkeit und Eigenverantwortung sind in unserer Gesellschaft wichtige Tugenden. Sie werden in der Schule erwartet und gefördert. Doch viele Kinder sind aus ihren Familien völlig anderes gewohnt. Das kann zu Frust und Überforderung führen – auf allen Seiten. Zum Artikel

 

 

6. Autoritäre Erziehung

Serie "Bildungsfern? Bildungs-anders!" – autoritärer Erziehungsstil – Magazin SCHULE

Wenig Wertschätzung, viel Druck: Viele Familien mit Migrationshintergrund folgen noch den Erziehungsidealen ihrer Heimatländer. Dort haben sich oft die Kinder noch den Erwachsenen unterzuordnen – wie es vor nicht allzu langer Zeit auch in Deutschland üblich war. Zum Artikel

 

7. Was Lernen mit Bindung zu tun hat

Serie "Bildungsfern? Bildungs-anders!" – Erziehung und Bindung – Magazin SCHULE

Wenn der Halt fehlt: Ein kaum lernfähiges Kind, ein plötzlicher Leistungsabfall – das muss nichts mit Faulheit oder pubertären Hormonschüben zu tun haben. Manche Kinder von Eltern mit wenig Schulbildung haben keine sichere Bindung erfahren – und sind daher gar nicht in der Lage, in der Schule Leistung zu zeigen. Zum Artikel

 

8. Wie Moral sich etwickeln kann – oder eben nicht

Serie "Bildungsfern? Bildungs-anders!" – Moral und Gewissen – Magazin SCHULE

„Haben die denn kein Gewissen?“ Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral: Schon Berthold Brecht wusste, dass man von Menschen, deren grundlegende Bedürfnisse nicht gestillt sind, keine außerordentlichen Gewissensleistungen erwarten kann. Dass ähnliche Mangelerscheinungen noch heute die Arbeit in vielen Schulen schwer machen, ist nur wenigen Lehrkräften bewusst. Zum Artikel

 

 

9. Andere Kultur, andere Werte

Serie "Bildungsfern? Bildungs-anders!" – Religion, Werte und Normen

Wenn Religion Bildung ersetzt: Familien aus anderen Kulturkreisen kommen meist mit ganz anderen Werten und Normen nach Deutschland, als sie hier üblich sind. Das macht das Ankommen auch für die Kinder schwierig – ist aber nur mit viel Geduld zu ändern. Denn wer seine Werte loslässt, lässt auch seine Kultur los. Zum Artikel

10.Was ist wirklich wichtig?

Serien Bildungsfern? Bildungs-anders! – Grigrationshintergrund und Gastfreundschaft – Magazin SCHULE

Die zwei Gesichter der Gastfreundschaft: Was ist gerade wirklich wichtig? Diese Frage beantworten Menschen sehr unterschiedlich. In vielen Familien stehen Gäste jedenfalls sehr weit oben. Diese Haltung ist sympathisch – kann aber in der Schule zu überraschenden Problemen führen. Über die Schattenseiten der Gastfreundschaft. Zum Artikel

 

11.Zu direkt: die Krux mit dem Kommunikationsstil

Migration und Kommunikation: Warum Migranten und Einheimische sich so oft missverstehen - Magazin SCHULE

Woran Elterngespräche oft scheitern: Deutsche kommen in Gesprächen gern rasch zur Sache. In vielen Ländern der Welt gilt eine so direkte Kommunikation jedoch als unhöflich. Kein Wunder also, dass Elterngespräche in den Schulen oft in Missverständnissen enden. Zum Artikel

 

12.Die Macht der nonverbalen KommunikationNoverbale Kommunikation - Serie "Bildungsfern? Bildungs-anders!" - Magazin SCHULE

„Deutsche reden wie Roboter“: Wenn manche Menschen sprechen, redet ihr ganzer Körper mit. In Deutschland ist das eher unüblich. Kinder, die viel nonverbale Kommunikation gewohnt sind, reagieren daher manchmal unangemessen – erst recht, wenn sie eine autoritäre Sprache gewöhnt sind. Zum Artikel

 

 

 

Über die Autorinnen

Eylem Emir und Heidemarie Brosche – Serie "Bldungsfern? Bildungs-anders" – Magazin SCHULE
Eylem Emir (links) ist Erzieherin an einer Grund- und Mittelschule in einem Brennpunktviertel. Zudem ist sie zertifizierte interkulturelle Trainerin und engagiert sich als ehrenamtliche „Stadtteilmutter“ des Deutschen Kinderschutzbundes Augsburg e.V. zu Bildungs- und Erziehungsthemen für Eltern. Emir ist Türkin mit arabischer Abstammung und 1998 im Alter von 20 Jahren nach Deutschland gezogen.
Die Pädagogin und Autorin Heidemarie Brosche hat seit 1977 an Grund- und Hauptschulen unterrichtet sowie zahlreiche Sach- und Kinder- und Jugendbücher verfasst. Für ihr Engagement für Leseförderung und Bildungsgerechtigkeit wurde sie 2020 mit dem „Volkacher Taler“ der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur geehrt. www.h-brosche.de

Illustrationen: Ariane Dick Bellosillo/Magazin SCHULE



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