Eltern als Hilfslehrer? Magazin SCHULE
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Eltern als Hilfslehrer?

Lesehausaufgaben unterschreiben, Mathezettel korrigieren, den Schulranzen jeden Morgen auf Vollständigkeit überprüfen: Viele Lehrkräfte setzen fast selbstverständlich auf den Einsatz der ­Eltern. Doch ist es wirklich sinnvoll, dass Eltern Hilfslehrer spielen?


Erstklässler-Elternabende sind ein besonderes Ereignis. Mit gezücktem Stift sitzen jede Menge hoch motivierte Eltern auf viel zu kleinen Stühlen und warten auf Regieanweisungen: Was können wir tun? Auf meinem ersten Elternabend als Mutter zog die Grundschullehrerin der Elternschar sofort den Stecker: „Bitte!“, sagte sie, „Wenn Sie mich unterstützen wollen, dann lassen Sie Ihre Kinder die Hausaufgaben allein machen.“ Die Botschaft war klar: Hausaufgaben sind für Schüler, nicht für Eltern. Fehler, leere Zeilen oder vergessene Zettel seien nicht schlimm. Im Gegenteil, sagte die Lehrerin: „Ich will sehen, was Ihre Kinder können und was nicht – nur so kann ich sie optimal fördern.“

Plötzlich sollen Eltern Hilfslehrer sein

Acht Jahre später, gleiche Schule, andere Lehrerin. Ich sitze auf dem Erstklässler-Elternabend meines jüngsten Sohnes, neben mir ­aufgeregte Jungeltern. Ich bin tiefenentspannt, denn ich weiß ja, wie der Hase läuft. Doch es kommt alles anders.

Die Lehrerin gibt einen klaren Kurs vor. Es gibt eine ­Postmappe, die täglich kontrolliert werden muss. Lesepläne, die wir abzeichnen müssen. Wir sollen die Hausaufgaben begleiten, auf Fehler hinweisen und mit den Kindern – je nach Förderbedarf – Lesen, Schreiben und Rechnen üben. Meine Tiefenentspannung bröselt ab wie trockene Panade. Bei drei Kindern weiß ich, wie nervig Hausaufgaben sein können, wenn Eltern sich einmischen. Ein tiefer Widerwille breitet sich in mir aus, und eine ­Frage bohrt: Warum ist denn plötzlich ­alles anders? Warum sollen plätzlich die Eltern Hilfslehrer spielen?

Die Erwartungshaltung an die Lehrkräfte ist massiv gewachsenSimone Fleischmann, BLLV-Präsidentin

„Die Zeiten haben sich geändert“, sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). „Die Tendenz zeigt, dass immer mehr Lehrkräfte ganz gezielt auf die Unterstützung der Eltern setzen.“ Gründe dafür gebe es viele, oft auch abhängig vom jeweiligen Bundesland und Schul­standort. Allen gemeinsam sei ein großer ­gesellschaftlicher Leistungsdruck: „Seitdem es nach der vierten Klasse direkt auf die weiterführenden Schulen geht, ist die Erwartungshaltung an Grundschullehrkräfte massiv gewachsen“, sagt die ehemalige Schulleiterin und Schulpsychologin.

Gerade in Bayern sei es zum Beispiel mittlerweile keine Seltenheit mehr, dass Eltern die Gymnasialempfehlung zur Not mit dem Anwalt durchboxen. Hinzu kommen Inklusion und Zuwanderung. Neben den Kindern, die unbedingt aufs Gymnasium sollen, sitzen Flüchtlingskinder, die kaum ein Wort Deutsch sprechen, und Kinder mit Lernstörungen und besonderem ­Förderbedarf. Dazu reihenweise Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, denen es schon schwerfällt, mal fünf Minuten still zu sitzen.

„Die Werbeslogans versprechen eine Schule für alle“, sagt Fleischmann und legt den Finger in die Wunde: „Mit unserem derzeitigen Schulsystem kriegen wir dieses tolle Menschenbild der Heterogenität aber nicht hin. Wir brauchen kleinere Klassen, Multi-Teams, mehr Schulassistenten und Betreuungskräfte. Eine Lehrkraft vor bis zu 30 völlig unterschiedlichen Schülern, das kann einfach nicht klappen.“ ­Zumindest nicht so, wie Eltern und die Lehrkräfte selbst sich die Förderung der Kinder wünschen.

Es gibt gute Gründe, Eltern mehr einzubeziehen

Auch Elke Wild, Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Bielefeld, plädiert dafür, Erziehungs- und Bildungsaufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen. Schulische Elternmitwirkung, zum Beispiel in Form von Lesepatenschaften, könnte helfen, möglichst vielen Kindern gerecht zu werden: „Es gab schließlich noch nie so viele engagierte Eltern wie heute.“

Dabei sollte es jedoch nicht darum gehen, dass die Eltern zu Hause Hilfslehrer für die Kinder spielen. „Eltern können Erstklässlern helfen, sich an Strukturen zu gewöhnen, zum Beispiel jeden Abend daran erinnern, den Ranzen für den nächsten Tag zu packen.“ Auch gemeinsames Lesen sei sehr wertvoll. „Es ist natürlich toll, wenn Eltern sich für die Hausaufgaben ­ihres Kindes interessieren, mal nachfragen oder nachschauen und bei Fragen ­beratend, aber eben nicht ­lösend, zur Seite stehen.“

Die elterliche Mitwirkung darf nicht Bedingung für die schulische Förderung und Entwicklung eines Kindes seinSimone Fleischmann

Bedingung für die schulische Förderung und Entwicklung eines Kindes dürfe dieses elterliche Engagement aber nicht sein, warnt Fleischmann: „Wenn Schule Aufgaben an Eltern delegiert, wird das Bildungsgefälle in Deutschland, das sowieso schon ein Riesenproblem ist, noch größer.“

Denn: Neben den berühmt-berüchtigten Helikoptereltern gebe es auch jede Menge Eltern, die sich überhaupt nicht um die Hausauf­gaben kümmern, sagt Tina Wohlers, Grundschullehrerin aus dem niedersächsischen Verden. Manche Eltern hätten einfach kein Interesse, andere schlicht keine Zeit. „Ich habe auch ­Eltern in der Sprechstunde, die mir sagen, dass sie ihrem Kind nicht ­helfen können, weil ihnen selbst die nötige Bildung fehle.“

Kinder müssen ihre Hausaufgaben selbstständig erledigen können

Für Wohlers ist es deshalb keine Option, alle Eltern in die Hausaufgabenbetreuung miteinzubeziehen. „Ich gebe grundsätzlich nur Hausaufgaben auf, die die Kinder ­allein lösen können“, sagt sie und erinnert an gesetzliche Vorgaben: „In Niedersachsen sieht der Hausauf­gabenerlass vor, dass immer nur solche Hausaufgaben gestellt werden dürfen, deren selbstständige Erledigung den Schülern möglich ist.“

Für eine alleinerziehende berufstätige Mutter mit drei Kindern gibt es einfach GrenzenTina Wohlers, Grundschullehrerin

Und wenn die Schüler ohne Hausaufgaben in die Schule kommen? „Dann gibt es eine Erinnerung und später auch ein Elterngespräch“, sagt Wohlers. ­Gemeinsam mit den Eltern versucht sie dann, Lösungen zu finden. „Wenn ich aber zum Beispiel eine alleinerziehende berufstätige Mutter mit drei Kindern vor mir sitzen habe, weiß ich, dass es da einfach Grenzen des Machbaren gibt, dann muss ich als Lehrerin schauen, was ich tun kann.“

Das Thema Hausaufgaben lässt Emotionen hochkochen. „Und im Wunsch, die Schüler bestmöglich zu fördern, gehen Lehrkräfte dabei die unterschiedlichsten Wege“, sagt Fleischmann. Bei uns klappt der Lehrer-Eltern-Dialog über Postmappe und Hausaufgabenheft ­bisher ­tatsächlich ganz gut. Die Hausaufgaben sind für meinen Sohn nicht schwierig. Nur die Disziplin fällt ihm oft noch schwer. Das Kontrollsystem erleichtert die Sache. Keine Unterschrift von Mama – kein Stempel von der Lehrerin. Mein Sohn steht unter Zugzwang, wenn er am nächsten Tag in der Schule mit den anderen mithalten will.

Es ist schon typisch deutsch, dass Hausaufgaben erledigt werden, damit die Lehrerin zufrieden istElke Wild, Bildungsforscherin

Ich muss zugeben: Dieser Druck ist irgendwie praktisch, trotzdem ­frage ich mich, ob mein Sohn die Hausaufgaben nur erledigt, weil er Häkchen und Stempel haben will oder weil es ihm auch ein bisschen Freude macht. „Es ist schon typisch deutsch, dass Hausaufgaben erledigt werden, damit die Lehrerin zufrieden ist“, sagt Pädagogin Wild, die diese Herangehensweise jedoch für völlig falsch hält. Hausaufgaben im eigentlichen Sinne sollen dem Kind helfen, Stoff aus dem Unterricht eigenständig zu wiederholen und Strategien des selbst gesteuerten Lernens zu erwerben. „Es geht um positive Lernerlebnisse und das bestärkende Gefühl: Ich kann das schon prima allein.“

Wenn Eltern jedoch mit Leistungsdruck und angespitztem Bleistift neben den Kindern sitzen, sei eine positive Lernatmosphäre nur schwer erreichbar. Wer Kinder im schulpflichtigen Alter hat, weiß, wie schnell Kakaoflecken im Mathebuch, schiefe Silbenbögen oder krumme Buchstaben den familiären Haussegen schief hängen lassen können, besonders wenn sowieso schon alle genervt sind. Oft würden Eltern dann auch noch lauthals über die blöden Hausaufgaben schimpfen, sagt Fleischmann. „Hier beißt sich die Katze aber in den Schwanz, denn so vermittelt man dem Kind überhaupt nichts Gutes mehr.“ Sie rät Eltern, die sich von den Hausaufgaben überfordert fühlen, deshalb unbedingt zum Gespräch mit der Lehrkraft: „Sagen Sie offen und ehrlich, was Sie leisten können und was nicht. Dann muss man ­gemeinsam schauen, wie es weitergeht.“

 

  • „Eltern als Hilfslehrer?“ – Foto: Drazen Zigic auf Freepik
    Dieser Artikel ist in einer ersten Fassung am 14.3.2017 erschienen. Das Online-Veröffentlichungsdatum entspricht der letzten Aktualisierung.


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