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Gibt’s die auch zum Ankleben?

Knöpfe annähen? Wie geht das denn? Offenbar macht unsere Erziehung Kinder unselbstständig, meint Leserautorin Judith Tschoepe


Neulich ist mir aufgefallen, dass meine Jungs (neun und zwölf Jahre alt) ­keine Knöpfe annähen können. Vermutlich werden sie es überleben. Trotzdem ­finde ich, dass sie es können sollten. Um sich im Leben durchzuwursteln, gehört mehr dazu, als die Blätter ­einheimischer Bäume bestimmen zu können.

Wer ist eigentlich für die „Knopflosigkeit“ verantwortlich? Wer macht unsere Kinder unselbstständig? Reflexhaft sehe ich Richtung Schule. Meine Kids lernen dort in der Tat eher, Tacker und Heißklebepistole zu benutzen als eine Nähnadel. Erleichtert lehne ich mich ­zurück. Puh! Ich dachte schon, ich müsste mich selbst mit Nadel und Faden bewaffnen und meine Jungs zum Nachsitzen in Sachen Hauswirtschaft verdonnern. Schule ist doch als Sündenbock eine herrliche Sache. Wenn es sie nicht gäbe, müsste sie erfunden werden. Es tut meiner Elternseele gut, wenn ich so direkt und unkompliziert die Ursache für ein Erziehungsproblem finden kann – und die ­Ursache vor allem nicht bei mir liegt.

Die Schule ist schuld, oder?

Na, das ist ja wohl Aufgabe der Eltern! Sagt die Stiefmutter

Leider, leider mosert ein kleines, aber feines Stimmchen in meinem Kopf herum. Erst leise, dann immer deutlicher. „Mein liebes Kind, das ist aber nun wirklich die Aufgabe des Elternhauses, seinem Nachwuchs das Bettenmachen, Knöpfeannähen und Schleifenbinden beizubringen.“ Ich kenne diese Stimme: Sie gehört meiner Mutter. Da ich meine Mutter nicht mehr interviewen kann, rufe ich meine Stiefmutter an. Und wissen Sie, was die sagt? Sie glauben es nicht! „Na, das ist ja wohl die Aufgabe der Eltern!“ Und jetzt müsse sie sich verabschieden: Zusammen mit ihrem (erwachsenen) Sohn müsse sie heute noch ihren riesigen Garten winterfein machen. Okay, das scheint also ein Beispiel für die (gelungene) Erziehung ­unserer Elterngeneration zu sein.

Wenn die beiden Damen Recht hätten, hieße das, dass ich mir an meine eigene Nase fassen muss. Will ich aber nicht. Ich überlege, für wann die nächste Klassenfahrt geplant ist. Schließlich haben meine beiden Jungs beim letzten Mal das Bettenbeziehen prima gelernt. Vielleicht sollte ich vor Antritt der nächsten Klassenreise ihre Hosenknöpfe lockern und ganz diskret eins dieser praktischen Näh­etuis in den Koffer packen? Ich beruhige mein schlechtes Erziehungsgewissen mit der Erkenntnis, dass die Kids heute sowieso alles mit YouTube lernen. Bestimmt gibt es da auch brauchbare Tutorials zum Stichwort „Knöpfe annähen“.

Die Lösung: ein guter Abschluss. Oder eine Ehefrau …

Betrachten wir das Ganze doch mal positiv. Gut, jetzt sind die Kinder unselbstständig – aber vielleicht kann das Thema ja eine ­prima Argumentationshilfe für gute Noten sein: „Mach ’nen guten Schulabschluss, und du kannst dir ’nen Butler leisten. Der serviert dir dann deine Nudeln wunderbar al dente.“ Die Feministin in mir stichelt: Ersetze das Wort „Butler“ durch das Wort „Ehefrau“ – dann reicht deinen Jungs auch ein mittelmäßiger Schulabschluss. Ist doch leider immer noch so!

Das wär es doch: eine Art Bootcamp für Hauswirtschaft

Vielleicht gibt’s ja auch so eine Art „Bootcamp für Hauswirtschaft“, überlege ich. Das läuft dann vermutlich so ab: zum Aufwärmen Spülmaschine ausräumen. Dann Kartoffeln schälen, kochen, Salat zubereiten und den Tisch ­decken. Nach dem Essen alles wieder abdecken, die Spülmaschine einräumen, den Fußboden fegen, das Bad putzen, einkaufen und zum Ausklang in geselliger Runde lustig bunte Knöpfe annähen.

Ach ja! Erziehung zur Selbstständigkeit ist vermutlich nur deshalb so schwierig, weil sie so komplex ist. Heute hat jede hauswirtschaftliche Handlung mindestens zwei ­Facetten, die man berücksichtigen muss (wenn nicht sogar drei oder vier): den Stromverbrauch (ist eigentlich immer ein Thema), die Milchpreise für die Milchbauern (beim Kauf der Milch), das Aussterben der Innenstädte (bei der Bestellung im Internet), die Auswirkungen von Haushaltsreinigern auf Allergien, das Kochen allergenfreier Nahrung, die Öko­bilanz von regionalen Lebensmitteln …

Wir mussten den Müll nur rausbringen. Heute reicht das nicht mehr

Wir berücksichtigen heute mehr, als es unsere Eltern getan haben. Ein Beispiel: Früher mussten Kinder einfach nur den Müll rausbringen. Es war nämlich nur eine (!) Tonne da. Unsere Eltern hatten also lediglich darauf zu achten, dass wir den Müll auch tatsächlich rausbrachten.

Heute müssen wir als Eltern außerdem noch Folgendes tun: Zuerst ist die Art des Abfalls zu scannen (Verpackung, Restmüll, Papier, Glas, Biomüll). Dann müssen wir dem Kind sagen, welche Farbe die Tonne haben soll, in die es die Mülltüte zu werfen hat (Blau, Gelb, Schwarz, Grün …). Bevor die Mülltüte jedoch überhaupt voll ist, müssen wir dem Kind noch erklären, wie der Müll richtig zu trennen ist (gebrauchte Papiertaschentücher gehören zum Beispiel – ­anders als der Name es sagt – nicht in den Papiermüll).

Das Problem mit dem Knöpfeannähen: ungelöst!

Dieses Dauererklären überfordert mitunter unser elter­liches Nervenkostüm. Nicht immer haben wir die dafür ­nötige Zeit und Lust. Eine naheliegende Lösung ist es ­daher, dass wir es rasch selbst machen. Leider ist das nur kurzfristig eine Erleichterung, langfristig ein echtes Eigentor. Denn eines ist sicher: Auf die Weise lernen es unsere Kids NIE! Ich gestehe: Ich erstarre vor den Dimen­sionen ­dieser gesamtgesellschaftlichen Erziehungsdebatte. Ich erstarre so sehr, dass ich das Problem mit dem Knöpfeannähen noch immer nicht gelöst habe. Das Problem hat einfach zu viele Facetten.



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