Leserautoren

Mehr Praxis für Abiturienten!

Warum lernen Schüler am Gymnasium nicht, wie man einen Nagel in die Wand schlägt? Unsere Leserautorin plädiert für mehr Praxiszeit im Stundenplan: Sägen, Gärtnern, Löten, Nähen, Kochen …


Wir befinden uns zurzeit in der heißen Phase. Na, ich müsste besser schreiben: in einer der heißen Phasen. Schließlich gibt es so einige davon in der Zeit des Heranwachsens des Nachwuchses. Wir befinden uns aktuell also in einer der heißen Phasen. Nämlich in der „Der-Schulwechsel-steht-an-­Phase“. Unser älterer Sohn wechselt im Sommer von der Grund- auf die Oberschule. In Berlin geschieht dies nach der sechsten Klasse. Die Kinder haben hier also ein bisschen mehr Zeit als in den meisten anderen deutschen Bundesländern, um sich ihrer ­Stärken und ausbaufähigen Bereiche bewusst zu werden.

Und trotzdem sind viele Sechst­klässler und deren Eltern verun­sichert, welcher Schultyp wohl am besten geeignet ist. Natürlich orientiert sich die Empfehlung der Grundschullehrer (in Berlin heißt sie Förderprognose) zunächst einmal an den Noten und darüber hinaus am ­Arbeitsverhalten des Kindes. Ist die grobe Richtung klar, besuchen die Kinder mit ihren Eltern die Tage der offenen Tür der Oberschulen, um sich einen Eindruck zu verschaffen und ­Informationen zu sammeln.

Warum gibt es eigentlich an Gymnasien so wenige Angebote für praktisch begabte Kinder?

Beim Besuch dieser Veranstaltungen ging mir immer wieder die folgende Frage durch den Kopf: ­Warum gibt es an abiturorientierten Oberschulen so wenige Angebote für praktisch begabte Schüler? Fast ausschließlich an Real- und Hauptschulen (in Berlin: Integrierte Sekundarschule ohne gymnasiale Oberstufe) gibt es ausgestattete Schulküchen, in denen man kochen und backen lernen kann. Fast ausschließlich dort sind Werkstätten und genügend Zeit im Stundenplan vorhanden, um sägen, bohren, ­feilen, löten, nähen, gärtnern usw. lernen zu können.

Die einzige Ausnahme stellen die Gesamtschulen (in Berlin: Integrierte Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe) dar. Hier haben die Schüler die Möglichkeit, das Abitur abzulegen, und gleichzeitig gibt es das Schulfach „Wirtschaft, Arbeit, Technik“ (WAT), in dem man all diese praktischen ­Fertigkeiten erlernen kann. (Die alle natürlich auch eine theoretische, wissenschaftliche Seite haben.)

Ein Lehrer gestand mir allerdings, dass die WAT-Stunden auch dort so knapp gesät und oft derart über die Woche verstreut sind, dass aus Zeitmangel lediglich Miniprojekte angegangen werden können. Schließlich gehe der Großteil der Schulstundenzeit bereits für Vorbereitungs- und Aufräumarbeiten drauf. Meiner Meinung nach gibt es viele Grundschüler, deren Notendurchschnitt absolut in eine Gymnasial­empfehlung mündet und die trotzdem nicht nur wissenschaftlich und theoretisch Fachwissen erwerben möchten.

Die Arbeitswelt braucht doch vorausschauend denkende Fachkräfte!

Abgesehen davon, dass auch Abiturienten und Akademiker essen und mal einen Nagel in die Wand schlagen müssen: Die heutige Arbeitswelt braucht vorausschauend ­denkende Fachkräfte, die nicht lediglich einen Teilaspekt, sondern das Ganze im Blick haben. Ich denke, dass ein Ingenieur, der selbst mal eine Platine ­gelötet oder die Statik eines Bauwerks nicht nur berechnet, sondern selbst bauend überprüft hat, einen wesentlich wertvolleren ­Beitrag ­leisten kann als ein reiner Theoretiker.

Andersherum stellen immer mehr Arbeitgeber für Ausbildungsgänge, die früher vollständig mit MSA-/Mittlere-Reife-Absolventen bestückt waren, zu 50 Prozent Abiturienten ein. Man kann also nicht alle Schüler, die mehr praktisch arbeiten wollen, an Schulen ohne gym­nasiale Oberstufe verweisen. Die Gleichung „Wer ein Gymnasium besucht, der strebt ein Studium an und braucht daher keine praktischen Fertigkeiten“ ist weder zeitgemäß noch praxisnah. Ein anderer Aspekt ist der Beitrag der Ausgewogenheit von Praxis und Theorie zur Schülergesundheit. Immer mehr Gymnasiasten klagen nämlich darüber, dass ihnen Entspannungsphasen im Schulalltag fehlen. Praktische Lerneinheiten könnten diese schaffen, sodass die Schüler beim Lernen mit den Händen nebenbei wieder Kraft tanken könnten für das Lernen mit den grauen Zellen.

So, und welche Schule wählt nun mein fleißiger Sohn, der wahrscheinlich eine Gymnasialempfehlung ­bekommen wird, aber am liebs­ten praktisch arbeitet? Ich hoffe, dass uns die perfekte Lösung ganz schnell über den Weg laufen wird. Denn bis zur Oberschulanmeldung dauert es nicht mehr lange.



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