Noten abschaffen: Lernentwicklungsgespräche sind sinnvoller - Magazin SCHULE
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„Noten abzuschaffen war genau der richtige Schritt“

Persönliches Feedback statt Zensurendruck: Die Grundschule an der Comeniusstraße in Braunschweig hat Noten schon vor Jahren abgeschafft – und es nie bereut, wie die ehemalige Schulleiterin Brigitte Rössing erklärt


Das Schuljahr 2017/2018 war ein ganz besonderes für unsere Schule: Die Ära der Noten ging zu Ende. Am Ende jenes Jahres bekamen die vierten Klassen noch ein letztes Mal Zensuren – seitdem haben die Lehrkräfte für all ihre Schülerinnen und Schüler nur noch Lernentwicklungsberichte geschrieben. Für uns als Kollegium war dieser Schritt damals die logische Konsequenz aus unserem wichtigsten Anspruch: jedes Kind individuell nach seinen Fähigkeiten zu fördern. Es war ein später Höhepunkt meiner Laufbahn an der Grundschule Comeniusstraße – zwei Jahre später bin ich nach 31 Jahren dort als Lehrerin und Schulleiterin in Ruhestand gegangen. Heute, mit etwas Abstand und vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion rund um Noten und Leistungen an unseren Schulen, bin ich umso mehr überzeugt: Der Schritt, Noten abzuschaffen, hat sich gelohnt.

Noten abschaffen: Das war für uns ein logischer Schritt

In eine Grundschule wie unsere kommen an jedem ersten Schultag Kinder, die einen Buchstaben noch nicht von einer Zahl unterscheiden können. Sie sitzen dann neben anderen, die vielleicht schon fließend lesen, schreiben und bis 1000 rechnen können. Die Lehrkräfte an unserer Schule waren und sind überzeugt, dass der Unterricht durch diese Unterschiede sogar besser wird – wenn wir jedes einzelne Kind dort abholen, wo es steht, und es dann individuell so fördern, dass es auf die nächste Stufe gehoben wird. Dieser Anspruch ist ­heute eigentlich unbestrittener Standard an Grundschulen, nicht nur bei uns.

Der Junge hatte durchaus sprachliches Talent – aber eben nicht in Deutsch

Aber die Grundschule Comeniusstraße ist dabei vielleicht noch konsequenter als andere. Das Kollegium ist überzeugt: Wenn es gelingen soll, dass Kinder motiviert und eigenverantwortlich lernen, müssen sie auch individuelle Rückmeldungen ­bekommen. Einmal fragte mich zum Beispiel ein Drittklässler, ob er sein Lerntagebuch, in dem jedes Kind notiert, was es an einem Tag gemacht und erreicht hat, nicht auch auf Englisch führen dürfe. Das durfte er gern ausprobieren, und etwas später standen dort Sätze wie „Today I did my plans. And later we had English, and that was cool.“ Das war vielleicht grammatikalisch nicht perfekt, aber der Schüler beherrschte Zeiten und einen Wortschatz, den wir im Unterricht noch gar nicht durchgenommen hatten. Das Überraschende dabei: Der Junge – er hatte einen Migrationshintergrund – galt seiner Lehrerin eigentlich als sprachlich schwach, weil er im Deutschen große Schwierigkeiten hatte. Nun, offenbar hatte er durchaus sprachliches Talent – er zeigte es bloß nicht in der deutschen Sprache.

Wie sollen wir so eine Leistung in ein Notenschema pressen? Natürlich hat der Junge dafür in Englisch eine Eins verdient – aber wem hilft das? Ich muss dem Kind doch eine detaillierte Rückmeldung geben, um es zu bestärken, auf diesem Weg zu bleiben und sein Können vielleich sogar auf das Fach Deutsch zu übertragen. Und gleichzeitig kann diese Leistung ja nicht der Maßstab für den Rest der Klasse sein.

Ein Lerndialog ist besser als Noten

Deshalb sind die Lehrkräfte das ganze Schuljahr über in einem ständigen Lerndialog mit ihren Schülerinnen und Schülern. Sie geben ihnen laufend Feedback zu ihren Leistungen und Fortschritten – aber eben nicht in Form von Noten, sondern in persönlichen Gesprächen. Das gilt übrigens auch für die Eltern: Schon ganz am Anfang der Schulzeit führen die Lehrerinnen und Lehrer mit allen ein Gespräch durch, in dem ihnen die Eltern etwas über ihre Kinder erzählen, damit sie diese besser kennenlernen und einschätzen können. Später folgen dann in jedem Jahr verpflichtende Elterngespräche, bei Bedarf auch zwischendurch. So können die Lehrkräfte jedes Kind in seiner persönlichen Entwicklung begleiten. Über 20 Jahre gute Erfahrung hat unsere Grundschule jetzt schon mit diesem Konzept.

Die Noten haben unsere Bemühungen komplett konterkariert

Nur am Ende des Schuljahres mussten wir davon lange Zeit noch abweichen, zumindest in der dritten und vierten Klasse. Auch in diesen Zeugnissen standen zwar individuelle Berichte zu jedem Fach und zum Arbeits- und Sozialverhalten – aber eben auch Noten. Und diese haben unsere Bemühungen komplett konterkariert: Weil die Eltern und die Kinder dann nur noch auf die Noten schauen und sich untereinander vergleichen. So sind dann Schülerinnen und Schüler plötzlich demotiviert, obwohl sie vielleicht für ihre Verhältnisse einen großen Leistungsschub gemacht haben.

Am Ende hat eine Änderung im Landesschulgesetz es uns erlaubt, diese Zweigleisigkeit endlich zu beenden. Seit 2019 bekommen die Schülerinnen und Schüler unserer Grundschule auch am Ende der vierten Klasse keine Noten mehr. Das ist in Niedersachsen möglich, weil hier die Eltern entscheiden können, auf welche weiterführende Schule ihr Kind geht. Allerdings lassen die Lehrkräfte sie mit dieser Entscheidung nicht allein: Sie signalisieren den Eltern durchaus, ob wir es für sinnvoll halten, dass ihr Kind beispielsweise auf ein Gymnasium geht.

Noten sagen wenig aus darüber, ob ein Kind am Gymnasium zurechtkommt

Und selbst das gelingt aus unserer Sicht besser ohne Noten. Denn selbst die Gymnasialleitungen bestätigen uns, dass ohnehin nicht allein die Leistung entscheidend ist: Ob ein Kind am Gymnasium zurechtkommt, hängt mindestens genauso von seiner Belastbarkeit ab. Hält das Mädchen oder der Junge es aus, sieben verschiedene Fächer am Tag zu haben, dabei sieben verschiedene Hausaufgaben zu bekommen und vielleicht drei Tests pro Woche zu schreiben? Darüber sagen Grundschulnoten wenig aus.


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Die Entscheidung, Notenzeugnisse ganz abzuschaffen, ist in unse­rem Kollegium damals einstimmig gefallen – obwohl wir wussten, dass wir uns damit viel Arbeit machen: Regelmäßig Lernentwicklungsgespräche zu führen und vor allem die individuellen Berichte zu erstellen bedeutet viel mehr Aufwand, als nur eine Ziffer pro Fach ins Zeugnisprogramm zu tippen. Aber die Mehrarbeit lohnt sich. Und meine Kolleginnen und Kollegen arbeiten daran, durch technische Unterstützung die Berichte zu vereinfachen.

Auch unter den Elternvertretern gab es übrigens damals nur eine einzige Gegenstimme. Wobei ich natürlich weiß, dass nicht alle Eltern davon begeistert waren und sind. Unsere Gesellschaft ist insgesamt leider noch nicht so weit einzusehen, dass man Menschen nicht in ein ­Zahlensystem pressen kann. Es hat sich uns so sehr eingeprägt, dass wir uns ständig vergleichen wollen– wir müssen unsere Kinder aber mit sich selbst vergleichen.

Es ist hochgradig ungerecht, Kinder an ihrem Umfeld zu messen

Denn die wichtigste Frage ist ja nicht, wie ein Kind im Vergleich zu seinen Mitschülern steht. Es ist doch auch hochgradig ungerecht, Kinder an ihrem Umfeld zu messen: Unsere Schule steht in einem beliebten Stadtteil, in dem viele gut situierte Familien leben – da fallen Leistungen im Durchschnitt zwangsläufig anders aus als vielleicht in einem Problembezirk oder in einem anderen Bundesland.

Uns interessiert, wie ein Kind sich entwickelt: Nur wenn es das auch selbst weiß, wird es sich richtig anstrengen. Eine langfristige positive Leistungshaltung kann man nicht durch Noten erzielen. Wir wollen aus jedem Kind das Beste herauskitzeln, was es leisten kann – und das gelingt besser ohne Noten.

Protokoll: Mathias Brüggemeier – Foto: pressfoto auf Freepik



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