Denken & Diskutieren

Individuelle Förderung: Für jeden eine Extrawurst?

Der Zauberspruch fortschrittlicher Bildungspolitik heißt: individuelle Förderung. Aber was bedeutet das eigentlich? Wir forschen nach, was sich Eltern davon versprechen, wann Lehrer mit der Umsetzung überfordert sind und welche überraschenden Erkenntnisse die Wissenschaft hat


Nein, ein Modewort ist die individuelle Förderung nicht. Dafür ist der Begriff schon viel zu lange aktuell. Seit Jahren und Jahrzehnten, eigentlich schon seit den Zeiten der berühmten deutschen Alternativpädagogen, gilt der schulische Blick aufs einzelne Kind als Königsweg der Pädagogik. So langsam, sollte man meinen, sollte dieser Weg dann ja wohl gefunden sein. Und wenn nicht: Gibt es ihn dann überhaupt? Können Schulen überhaupt tatsächlich individuell fördern?

Wir haben Menschen gefragt, die das wissen müssten – oder zumindest wissen wollen müssten. Ein Lagegericht zur individuellen Förderung: was Eltern wünschen, was Lehrkräfte leisten und was Forscher wissen.

 

1. die Eltern

Einer raus, einer rein, Nächster sein: Sprechtag an einem Münchner Gymnasium. Auf den Fluren stehen neben den Klassentüren lange Stuhlreihen. Dort sitzen Eltern, die darauf warten, mit einem Lehrer ein paar Minuten über ihr Kind reden zu dürfen. Wenn eine Klassentür aufgeht und eine Mutter oder ein Vater eintreten darf, stehen alle in der Reihe auf und rücken einen Platz weiter.

Individuelle Förderung? Ratlose Gesichter.

Eine Mutter sagt: „Das ist, wenn Schulen mehr anbieten. Also neben Mathematik und Englisch auch Wahlkurse wie Jonglieren, Bienenzucht oder Theater.“ Sie finde solche Angebote gut. Einem Vater reicht die Antwort nicht. Unter individueller Förderung versteht er, „dass schwache Schüler eine besondere Hilfestellung bekommen“. Hilfestellung von wem? „Na, vom Lehrer natürlich.“ Despektierliches Gelächter.

Wer helfen soll? Na, die Lehrer natürlich. Despektierliches Gelächter

Langsam kommt Leben in die Stuhlreihe vor der siebten Klasse. Alle reden durcheinander. Die laute Stimme einer Mutter setzt sich durch: „Dafür haben die Lehrer keine Zeit, dafür gibt’s hier die Nachhilfe-AG.“ In der Nachhilfe-AG der Schule helfen ältere Schüler mit sehr guten Noten Schülern unterer Jahrgangsstufen mit schlechten Noten. Ob das gut funktioniert, wissen die Eltern auf den Stühlen nicht. Die meisten Kinder kommen anscheinend gut allein zurecht, eine Mutter erzählt, ihr Kind bekäme privat organisierte Nachhilfe.

Und was ist mit den sehr begabten Schülern?

Brauchen die Guten keine individuelle Förderung? „Die dürfen eine Klasse überspringen“, ruft jemand. Wieder Gelächter. Eine Mutter lacht nicht mit. Sie erzählt, ihr Sohn habe durchschnittliche Noten, langweile sich aber in den Mathestunden entsetzlich. Von individueller Förderung erhoffe sie sich eigentlich, dass „mein Sohn anspruchsvollere Auf­gaben bekommt“.

Man könne im Unterricht nicht für „jeden eine Extra­wurst braten“, findet eine andere Mutter. Aber ­Schule dürfte ruhig mal fünf gerade sein lassen, wenn es um ein besonderes Talent gehe. Die Mutter hat vier Kinder. Das jüngste besucht die vierte Klasse einer Grundschule und ist Mitglied in einem renommierten Knabenchor. Zwei Verpflichtungen, die sich nicht immer leicht vereinbaren lassen. Dass ihr Sohn trotz zum Teil langer Chorproben nach Schulschluss anderntags stets sämtliche Hausaufgaben ­parat ­haben muss, ärgert die Mutter.

 

2. die Lehrkräfte

So unterschiedlich die Erwartungen der Eltern in Sachen individuelle Förderung sind, so unterschiedlich sind auch die Anforderungen an die Lehrer. Zwar haben alle Bundesländer „die individuelle Förderung von Leistungspotenzialen“ als Kernauftrag ihrer Bildungseinrichtungen benannt, die praktische Umsetzung im Unterricht aber nicht festgelegt. Die Schulen sollen und dürfen das selbst regeln. ­Resultat: An manchen Schulen unterrichten Lehrer noch annähernd so, wie sie das aus ihrer eigenen Schulzeit kennen.

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An ­inklusiv arbeitenden Schulen hat sich der pädagogische Alltag dagegen bereits grundlegend geändert. Auf einer ­Internetplattform für Lehrer berichtet Conni über ihre ganz persönliche Schulrealität. Zum Zeitpunkt ihres Beitrags unterrichtet die Berliner Grundschullehrerin in einer jahrgangsübergreifenden Klasse 24 Schüler, darunter auch ­lernbehinderte und ­verhaltensauffällige Kinder. Für 16 Schüler mit „­irgendwelchen Problemen“ muss die Pädagogin regelmäßig ­Förderpläne entwickeln. Außerdem hat sie Lernentwicklungen zu protokollieren und Einschätzungen für die Kinder anzufertigen, welche den Klassenverband verlassen. „Umsetzen lässt sich eine detaillierte individuelle Förderung unter diesen Voraussetzungen beim besten Willen nicht“, sagt Conni. Selbst für die „allerschwierigsten Fälle“, so schreibt die Lehrerin, habe sie höchstens alle 14 Tage mal Zeit für „eine persönliche Einheit“.

 

Jedem Kind genau das, was es braucht? Wie soll das gehen?

Im Unterricht jeden Schüler mit einer anderen Aufgabe versorgen sei „wahnsinnig aufwendig“, bestätigt ­Josef Kraus. Mit über 30 Dienstjahren als Präsident und seit kurzem als Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbands ist Kraus im Bildungswesen der Republik eine seltene Konstante. Sprachlabore, Mengenlehre, Ganzheitsmethode – Kraus hat schon vieles als Flop enden sehen, was zuvor als pädagogisches Wundermittel gepriesen wurde. Ob auch die individuelle Förderung bald wieder in der Versenkung verschwindet?

Die innere Differenzierung hat sich nicht bewährt

Dass eine „Inklusion auf Biegen und Brechen“, also das gemeinsame Lernen von Regelschülern auch mit geistig behinderten oder stark verhaltensauffälligen Kindern, klappen könne, daran glaube Kraus jedenfalls nicht. Ganz generell habe sich „die innere Differenzierung nicht bewährt“, sagt Kraus. Von innerer Differenzierung sprechen Fachleute, wenn sich Schüler einer Klasse den Stoff anhand verschiedener Medien und Materialien weitgehend selbst erarbeiten – jeder in einem anderen Tempo und mit anderem Schwierigkeitsgrad. Kraus ist kein Fan solcher Methoden, weil „so etwas die Leistungsunterschiede nur zementiert“.

Die fitten Schüler würden davonpreschen, die Schwachen auf der Strecke bleiben.

„Die Basis für das Gelingen von optimaler Förderung“, davon ist der ­mittlerweile pensionierte Schulleiter überzeugt, „sind einigermaßen ­homogene Gruppen“, wie sie das dreigliedrige Schulsystem ermögliche. „Wenn jetzt noch jede Schule eine Lehrer­versorgung von 110 Prozent hätte“, so Kraus, „­könne man in Krankenzeiten Unterrichtsausfall vermeiden, in den ­anderen Wochen Spitzen- und Risikoschüler in unterschied­lichen Kursen fördern.“

 

3. die Bildungsforscher

Liest man sich in die zahlreichen Studien, Schriftreihen und Abhandlungen ein, kann einen schnell der Mut verlassen: seitenlange theoretische Vorüberlegungen, unterschiedliche Definitionen darüber, was unter individueller Förderung eigentlich genau zu verstehen ist, immer neue Begriffe, zahlreiche zum Teil widersprüchliche Forderungen und eher vage ­Hinweise für die konkrete Unterrichtspraxis. Auch die Experten an den Universitäten tun sich mit der individuellen Förderung schwer. Dabei hat sie in Deutschland Tradition. Reform­pädagogen haben sie immer schon befürwortet, seit den 1960er-Jahren beschäftigt sich die pädagogische Forschung damit. Trotzdem hat bislang niemand einen Königsweg anzubieten.

Vermutlich gibt es diesen Königsweg nicht.

Die Ergebnisse von John Hattie sind jedenfalls ernüchternd. Der Forscher von der Universität Melbourne hat einen legendären Ruf, den er einer Fleißarbeit verdankt. ­Hattie hat sämtliche englischsprachigen Untersuchungen zum Lernerfolg gesichtet, Hunderte zusammenfassende Analysen ausgewertet und daraus eine Art Superstudie gebastelt, die ihresgleichen sucht.

Die schlechte Nachricht lautet: Das bringt es nicht

Für all jene, die ­übertriebene Hoffnung auf den individualisierten Unterricht gesetzt haben, enthält die fast 400 Seiten dicke Untersuchung eine schlechte Nachricht. Sie lautet: Das bringt es nicht. Ob ­offene Unterrichtskonzepte, jahrgangsübergreifende Klassen oder selbst gestaltete Lernprozesse – nein, das alles ­verbessert das Lernen kaum bis gar nicht. Es lohnt den Aufwand nicht. „Hilfreich ist guter Unterricht“, sagt Jasmin ­Decristan. Die Wissenschaftlerin vom Institut für Psychologie der ­Goethe-Universität in Frankfurt am Main kann benennen, wie Unterricht gelingt, der allen Schülern nützt: klare Abläufe etwa, Regeln, Routine, ein konstruktiver Umgang mit Fehlern.

Das ist doch schon mal was.

Aber nach Revolu­tion klingt es nicht. Jedes Kind gemäß seiner Lernausgangslage so zu fördern, dass sich seine Talente und Begabungen optimal entfalten, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Gleichwohl ist es ein ehrgeiziges Ziel. Mit Unterricht immer nur nach Schema F wird es kaum gelingen. Aber kann man von öffentlichen Regelschulen verlangen, umfassende Einzelbetreuung zu leisten oder den Unterricht radikal zu verändern? Wohl kaum. Immer mal wieder eine Pause vom Einheitsunterricht zu machen müsste dagegen praktikabel sein. Wenn z. B. leistungsstarke Schüler mal Lehrer spielen und ihre weniger fitten Klassenkameraden unterrichten dürften, wie es etwa Schulforscher Andreas Helmke vorschlägt, würden nachweislich beide Seiten profitieren.

Und die inklusiv arbeitenden Schulen? Brauchen ­neben Lehrern Hilfe von Sozialarbeitern, Erziehern, Schulbegleitern. Da sind sich die Bildungsforscher einig.

 

„Für jeden eine Extrawurst?“ – Individuelle Förderung – Foto: Thinkstock



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