Wundern & Wissen

Welche Lerntypen bin ich?

Jedes Kind hat seine Stärken, Schwächen und Vorlieben beim Lernen. Wer die kennt, arbeitet effektiver – und hat sogar viel mehr Spaß dabei


Eines ist klar: Ich bin ein visueller Lerntyp. Jedenfalls überwiegend. Zu exakt 50 Prozent. Beziehungsweise zu 25. Oder auch zu null Prozent, also überhaupt nicht. Woher ich das so gar nicht genau weiß? Ich habe einige Online-Lerntypen-Tests gemacht, deren Fragen zwar meist auffallend ähnlich klingen, die aber dennoch zu erstaunlich unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der Erkenntnisgewinn? Begrenzt: Mir ist jetzt zumindest klar, dass ich vom Nachdenken über meine präferierten Wahrnehmungskanäle keine Wunderdinge zu erwarten brauche.

„Beim Lernen sollte man sowieso mit möglichst vielen Sinnen arbeiten“, beruhigt mich Jürgen Möller, der als Gymnasiallehrer und langjähriger Lerncoach weiß, wovon er spricht. Ob jemand etwas mehr oder weniger gern durch Sehen, Hören oder Fühlen lernt, sei nicht so entscheidend, solange die Lehrkraft im Unterricht für Abwechslung sorge. Aber warum stolpere ich dann auf Lernportalen, bei Nachhilfeanbietern, in Blogs und Büchern immer wieder über Tests, die mir verraten sollen, ob ich mich beim Lernen von den Augen, den Ohren oder dem Tastsinn leiten lassen sollte?

Lerntypen haben sich etabliert – aber auch bewährt?

Ein Grund dafür ist offenbar eine gewisse Tradition. In den 1970er-Jahren beschrieb der Biochemiker Frederic Vester, dass Menschen Wissen unterschiedlich aufnehmen und verarbeiten und dabei unterschiedliche Aufnahmekanäle bevorzugen. Folglich könne man die Effektivität des Lernens steigern, wenn man seine präferierten Sinne benutze. In seinem Bestseller „Denken, Lernen, Vergessen“ schlug Vester 1975 vier unterschiedliche Lerntypen vor: einen auditiven, einen visuellen, einen haptischen und einen verbal-abstrakten, wobei Mischtypen die Regel seien.

Lernt der verbal-­abstrakte Typ etwa ohne Zuhilfenahme seiner Sinne?

Mit dieser Aufteilung eröffnete und prägte Vester die Debatte um gehirn- und persönlichkeitsgerechtes Lernen für Jahrzehnte. Noch heute lehnen sich die meisten Tests an sein Schema an – auch wenn der wissenschaftliche Hintergrund und Nutzen längst fraglich sind. So weist der österreichische Psychologe und Autor Werner Stangl auf einen Widerspruch hin, den schon Vester selbst in seinen Lerntypen angelegt hat: Die ersten drei beziehen sich auf Sinne (Sehen, Hören, Tasten), der vierte auf eine Verarbeitung von Informationen im Gehirn (Lesen und abstraktes Denken). Nehmen also auditive, visuelle oder haptische Lerner ihr Wissen ohne weitere Verstandesleistung auf? Und lernt der verbal-­abstrakte Typ ohne Zuhilfenahme seiner Sinne? Das ist natürlich Unsinn.

Doch auch Werner Stangl bietet auf seinem umfangreichen Portal mit Lernhilfen, Aufsätzen und Informationen einen recht typischen Lerntypen-Test an. Er argumentiert: Seine Präferenzen beim Gebrauch seiner Sinnesorgane zu kennen sei nützlich, „da sich manche Menschen mit einer Lerntechnik plagen, die für sie nicht unbedingt die günstigste ist. Weiß man aber, mit welcher Methode man sich ­leichtertut, kann man versuchen, diese ganz gezielt häufiger einzusetzen.“ Das ist schlüssig, und so habe ich auch diesen Test ausprobiert: Ihm zufolge bin ich bildlich, akustisch, handelnd und lesend orientiert – zu je genau 25 Prozent. Auch das bringt mich also nicht weiter.

Die Sinne sind nur der erste Schritt beim Lernen

Vielleicht bin ich aber auch auf der falschen Fährte. Denn unter dem Begriff „Lerntypen“ fragen längst nicht alle Tests nur nach Sinnen. Der ehemalige ­Gedächtnisweltmeister­ Gunther Karsten etwa hat für sein Buch „Lernen wie ein Weltmeister“ (Goldmann, 9,99 Euro) einen Lerntypen-Test speziell fürs Sprachen­lernen entwickelt. Er unterscheidet aus ­eigener Erfahrung einen „audioma­tischen“ Typ, dem sich Fremdsprachen über das häufige Hören („audio-“) fast automatisch („-matisch“) einprägen, und einen „logokognitiven“, der sich Sprachen logisch („logo-“) über das Verständnis („-kognitiv“) erschließen muss. Einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt dieser Test nicht, aber er bezieht etwas Wesentliches mit ein: die Verarbeitung der über die Sinne aufgenommenen Informationen. Auch darin unterscheiden sich Menschen nämlich erheblich.

Bin ich Entdecker oder Entscheider, Denker oder Praktiker?

Ist ein Kind beim Lernen kreativ oder strukturiert? Wie emotional ist es? Wie kommunikativ? Solche Fragen führen zu Konzepten, die über die einfachen Lerntypen hinausgehen. Der Amerikaner David A. Kolb ­konnte zum Beispiel in den 1980er-Jahren belegen, dass sich Schüler und andere Lernende gut danach unterteilen lassen, ob sie lieber etwas aktiv ausprobieren oder nachdenklich beobachten und ob sie sich eher von konkreten Erfahrungen oder abstrakten Theorien leiten lassen. Je nach Ausprägung des einen oder anderen Merkmals eignen wir uns demnach neue Fähigkeiten und Wissen eher wie ein Entdecker, Entscheider, Denker oder Praktiker an. (Kolb selbst benutzt dafür andere Begriffe, die zum Beispiel Werner Stangl auf seiner Website erläutert.) Lernpsychologen sprechen hier von unterschiedlichen Lernstilen in Abgrenzung zu den als unwissenschaftlich betrachteten Lerntypen.

Was klassische Tests außer Acht lassen: die Persönlichkeit

Doch egal, ob man nun von erweiterten Lerntypen oder lieber von Lernstilen spricht, das Spannende ist dabei: Nun kommt die Persönlichkeit ins Spiel. „Auch wir haben festgestellt, dass unsere Schülerinnen und Schüler nicht in unsere vier Lerntyp-Schubladen passten“, sagt Lerncoach Möller, der seit Langem mit Tests
arbeitet, als Lehrer ebenso wie als Coach. „Es ist einfach nicht ausreichend zu sagen: Du bist ein kreativ-­chaotischer Lerntyp. Dafür sind die Anteile anderer Persönlichkeitsmerkmale bei den Kindern zu groß.“

Schüler können also je nach Situation unterschiedliche Lerntypen sein

Oft komme es zum Beispiel vor, dass ein Kind zu Hause eine ganz andere Lernpersönlichkeit zeige als in der Schule: „Da ist jemand zu ­Hause beispielsweise laut und neugierig, während seine Lehrerin ihn am ­Elternabend als introvertiert und zurückhaltend beschreibt. Das Pro­blem ist dann offensichtlich die Umgebung: Vielleicht braucht dieses Kind viel Vertrauen und Sicherheit, die es zu Hause hat, aber in der Schule aus verschiedenen Gründen nicht. Solche Persönlichkeitsmerkmale bekommen Sie mit normalen Tests nicht heraus.“ Schüler können also je nach Situation auch unterschiedliche Lerntypen sein.

Die Frage ist doch: Was fange ich mit den Ergebnissen an?

Wenn ein Test jedoch mehr als ein paar Sinne erfassen soll, wird er schnell aufwendig – für den Anbieter, aber auch für die Testpersonen. Doch der Aufwand lohnt sich, denn was bringt ein Test, aus dem ich nichts ­lerne? Egal, ob mich ein Test als ­visueller Lerntyp oder als nachdenklichen Beobachter ausweist, die Frage ist doch: Was fange ich mit diesem Ergebnis dann an?

Klassische Lern­typen-Tests dienen vor allem dazu, Lerntipps vorzusortieren

Das ist vielleicht ein weiterer Grund dafür, dass klassische Lern­typen-Tests so weitverbreitet sind: Nicht nur der Test selbst, sondern auch seine Schlussfolgerungen sind relativ einfach. Mindmaps oder Lernplakate zu erstellen ergibt nur Sinn, wenn ich mir diese leicht wieder vor Augen führen kann – also gut visuell lerne. Insofern dienen klassische Lern­typen-Tests vor allem dazu, Lerntipps vorzusortieren.

Wobei Schüler selbst das nicht überbewerten sollten: Erstens sind die meisten Tests unpräzise und schwankende Ergebnisse wie meine eher die Regel als die Ausnahme. Zweitens sind unsere Sinne schon biologisch unterschiedlich leistungs­fähig: Unsere Augen können zehnmal mehr Informationen gleichzeitig aufnehmen als der Tastsinn – und sogar hundertmal mehr als die Ohren. Am besten sind die ­Ergebnisse, je mehr Sinne ­beteiligt sind. Und drittens nützt das alles nichts, wenn Stress oder Unlust die Weiterverarbeitung der Informationen verhindern.

Sich besser zu kennen bedeutet auch Arbeit

„Wenn es Probleme in der Schule gibt, denken wir Eltern oft, die Kinder wollen nicht“, weiß Lerncoach Möller. „Ich glaube aber, das ist fast nie der Fall. Vielleicht stimmt einfach die Lernumgebung zu Hause nicht, oder das Kind weiß nicht, wie es ein Problem richtig angehen soll. Auch für die Schüler selbst ist es erleichternd zu erfahren, dass sie nicht zu dumm für Mathe sind, sondern bisher einfach die falsche Herangehensweise für sich gewählt haben.“

Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings wiederum Arbeit. Denn ein Test, und sei er noch so gut, kann nur Ideen geben und Vorschläge machen. Umsetzen muss man die neu gewonnene Erkenntnis schon selbst. Welche Lerntechnik für einen selbst geeignet ist, welche Regeln und Maßnahmen einem das Lernen erleichtern,
müssen Schüler und ihre Eltern selbst herausfinden.

Leider gilt das umso mehr, je weniger eindeutig man sich einem bestimmten Typ oder Stil zuordnen kann. Ach, wäre ich doch ein visueller Lerntyp …



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