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Wenn der Schulbus nicht kommt

Dann heißt es Eltern anrufen: Für Schulkinder auf dem Land ist es keine Überraschung, wenn der Schulbus im Winter nicht durchkommt oder Schulstunden ausfallen. Ein Beispiel aus dem Sauerland macht deutlich: Ohne Nachbarschaftshilfe und Familiennotruf geht für Schüler auf dem Land – fast – nichts


Morgens gemütlich trödeln, um dann auf dem Schulweg die Beine in die Hand zu nehmen? Das können sich die Brüder Niklas und Marcel aus ­Affeln im Märkischen Kreis nicht leisten. Wenn der Bus weg ist – dann ist er weg. Es fährt nämlich nur einer. Und wenn der Schulbus nicht kommt, gar keiner. Bislang ist den beiden das auch noch nicht passiert. Disziplin gehört halt irgendwie dazu, wenn man im Sauerland wohnt.

Pünktlich um 6.32 Uhr steht der 16-jährige Niklas an der Bushaltestelle. 45 Minuten brauchen die Busse für die 13,7 Kilometer bis zu seiner Gesamtschule in Werdohl – einmal umsteigen inklusive. Die Zeit dafür ist knapp bemessen. Nachmittags hat Niklas den zweiten Bus aber schon einmal verpasst. Was macht er dann? Er grinst: „Mama anrufen“, sagt er.

Sitzplatz ist GlückssacheMarcel, Schüler im Märkischen Kreis

Marcels Bus startet um 6.46 Uhr – in 20 Minuten erreicht der Elfjährige sein Gymnasium in Plettenberg. Immerhin: Er muss nicht umsteigen. Dafür ist der Bus immer proppenvoll. „Sitzplatz ist Glückssache“, sagt er. Andrea Frese, seine Mutter, nickt. „Auf dem Land sind wir Eltern eigentlich die Chauffeure unserer Kinder. In der Freizeit sowieso. Aber auch, wenn Marcel mal was Gebasteltes in die Schule transportieren muss. Im Schulbus würde das Teil ja kaum überleben.“ Als freiberuflich arbeitende Friseurin kann sie sich die Zeit immerhin einteilen. Und ihr Handy ist – natürlich – bei jedem Kundenbesuch dabei.

Wenn der Schulbus nicht kommt, gibt es vielleicht zu wenig Schüler

Mit 45 Minuten Schulweg ist Niklas noch gut dran. Laut Schulgesetz NRW gilt ein Schulweg erst dann als unzumut­bar, wenn das Kind mehr als anderthalb Stunden für eine Fahrt braucht oder es im Regelfall schon vor sechs Uhr morgens das Haus verlassen muss. Ein Szenario, das vorstellbar ist, wenn die Schuldichte auf dem Land weiter abnimmt: Seit 1975 ist die Zahl der Schüler im Märkischen Kreis von 68 608 auf 44 966 gesunken – ein Minus von fast 35 Prozent.

Winfried Becker, Schulaufsichtsbeamter im Märkischen Kreis, kennt die Zahlen: „Aktuell ist es allerdings sehr schwer einzuschätzen, ob sich der Trend der vergangenen Jahrzehnte so fortsetzen wird. Und diese Unsicherheit macht es für die Schulträger natürlich schwierig, die Zukunft zu planen. Mit Sicherheit wissen wir derzeit nur, dass die Schulplätze – auch aufgrund der Flüchtlingszahlen 2015 und 2016 – aktuell nicht ausreichen. Im Moment ist das ein größeres Problem als die langen Schulwege.“

Für manche Kinder wird sich der Schulweg bald noch verlängernWinfried Becker, Schulaufsichtsbeamter

Mit der Zahl der Schüler im Märkischen Kreis sank in den vergangenen Jahrzehnten in vergleichbarer Größenordnung auch die Zahl der Schulen. Allerdings gilt das nicht für alle Schulformen in gleichem Maße: Statt zwölf gibt es in der Gegend nun 14 Gymnasien und statt 14 aktuell 17 Realschulen. Weniger begabte Schülerinnen und Schüler haben eindeutig das Nachsehen: Statt 40 Hauptschulen (1975) gibt es im Märkischen Kreis nur noch acht.

Müssen Eltern lernschwächerer Kinder sich auf dem Land also zukünftig entscheiden, ob ihre Kleinen sich auf Schulen mit zu hohem Anspruch quälen oder dann doch noch längere Wege in Kauf nehmen müssen? Winfried Becker sieht hier tatsächlich ein Problem: „In Hemer beispielsweise gibt es nur noch eine Klasse 10, in Menden eine Klasse 9, und auch die Hauptschule in Balve bildet keine Eingangsklassen mehr und wird 2022 geschlossen. Übrig bleiben nur die Hauptschulen in Plettenberg, Lüdenscheid und Iserlohn. Für manche Kinder, die es in der Realschule nicht schaffen, wird sich der Schulweg in naher Zukunft also eher noch verlängern.“

Manchmal helfen Telefonketten

Claudia Heinemann wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern Henry (17) und Lennart (12) in Mellen, einem von sechs Dörfern, die zu Balve gehören. Die Dorfschule hat hier schon 1969 ihre Pforten geschlossen. Henry besucht das Gymnasium in der Nachbarstadt Sundern – 12,6 Kilometer von Haus zu Haus. So kurz vor dem Abitur kann er sich seinen Stundenplan sehr individuell zusammenstellen, und statt 37 Stunden wie im Vorjahr hat er jetzt nur noch 31 Stunden – viele Freistunden inklusive. Aber nach der dritten, vierten und fünften Schulstunde gibt es keinen Schulbus. Wenn er keine Fahrgelegenheit hat, dann macht er Hausaufgaben oder schlägt die Zeit irgendwie tot.

Claudia Heinemann: „Manchmal helfen Telefonketten. Wenn eine Mutter oder ein Vater fährt, dann kommen die Kinder aus den Nachbarstraßen halt mit.“ Sie selbst macht als Verlagsredakteurin drei Tage Homeoffice. Mittwochs und donnerstags muss sie nach Lüdenscheid. Eine Stunde Fahrt. An diesen Tagen kann sie ihrem Sohn nicht helfen. „Aber immerhin haben wir das Glück, dass meine Eltern in Rente sind und schon mal einspringen.“

Ich kenne Schüler, die von ihren Eltern sogar zum Schulbus gefahren werden müssenHenry Heinemann, Vater

Nachbarin Sandra Vogel kann ihren 13-jährigen Sohn werktags gar nicht fahren. Sie und ihr Mann arbeiten Vollzeit – ihr Mann zudem im Schichtdienst. „Manchmal helfen die Nachbarn“, erzählt sie. Zum Beispiel, wenn die ersten zwei Stunden ausfallen. Ohne private Mitfahrgelegenheit müssen die Kinder den Schulbus nehmen und die Zeit bis zum Schulbeginn dann irgendwie herumbringen.

Henry Heinemann zuckt die Schultern. „Tatsächlich ist unser Dorf noch ganz gut angebunden. Ich kenne Schülerinnen und Schüler, die von ihren Eltern sogar zum Schulbus gefahren werden müssen.“ Seine eigene Situation hat sich erst jetzt – in seinem letzten Schuljahr – entspannt. Einige Mitschüler und Mitschülerinnen sind nun 18 und fahren selbst. Falls die Eltern genug Geld für das zweite – oder gar dritte – Auto haben. Nur glücklich ist Henrys Mutter mit den neuen Mitfahrgelegenheiten ihres Sohnes aber auch nicht. „Das sind ja alles Fahranfänger, und manche Strecken hier sind – besonders im Winter – ganz schön tricky“, sagt sie.

Wenn der Schulbus nicht kommt, heißt es warten – bis 8.30 Uhr

Apropos Winter. Dass in den Alpen hin und wieder die Schule ausfällt, wenn die Bäume an den Straßen unter zu großer Schneelast ächzen, ist nicht überraschend – zu Beginn dieses Jahres war es wieder einmal so weit. Doch auch in den Mittelgebirgen sorgen Haarnadelkurven und viele Höhenmeter in dieser Jahreszeit schon mal dafür, dass der Schulbus nicht kommt. Wenn um 8.30 Uhr keiner ­erschienen ist, dürfen die Kinder wieder nach ­Hause ­gehen. Andrea Frese: „Ich fahre an diesen Tagen aus Prinzip auch nicht. Es kann nämlich gut sein, dass man morgens noch durchkommt, aber nachmittags gar nichts mehr geht. Dann kann ich sehen, wie ich meine Jungs nach Hause bekomme. Und die Verantwortung für andere Kinder möchte ich bei diesem Wetter auch nicht übernehmen.“

Ein bisschen alleingelassen fühlt sie sich manchmal schon. Etwa an einem Zeugnistag, an dem ausnahmsweise ein Schulbus nach der dritten – und letzten – Stunde fuhr. Allerdings nicht bis in ihr Dorf. Eine Info, die die Eltern aus Affeln und Umgebung leider nicht ­erreichte. Andrea Frese: „Ich hatte einen Termin und habe dabei hin- und hertelefoniert, bis ich jemanden fand, der meinen Sohn mitnahm. Wie soll das aber eine Krankenschwester machen, die sich diese Zeit einfach nicht ­nehmen kann?“

Andrea Frese und Claudia Heinemann wünschen sich eine bessere Infrastruktur in ihrer Heimatregion – nicht nur für die Schülerinnen und Schüler. „Das war früher wirklich besser. Ich kenne Kinder, die an einer Schul-AG am Nachmittag nicht teilnehmen können, weil ihre ­Eltern arbeiten und das nicht organisiert bekommen. Das ­finde ich schade“, erzählt Claudia Heinemann und fügt an: „Wenn die jungen Leute dauerhaft hierbleiben oder später mit ihren Familien wieder hier wohnen sollen, dann sollten sich die Kommunen schon mehr Gedanken darüber machen, wie die Infrastruktur in ländlichen Regionen in der Zukunft aussehen könnte.“



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