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Mobbing: Wie für Lisa die Schule zur Qual wurde – und was sie gerettet hat

Fast jeder sechste 15-jährige Teenager ist regelmäßig Opfer von körperlicher oder seelischer Misshandlung durch Mitschüler. Auch Lisa wurde ausgegrenzt, tyrannisiert und schikaniert – und wäre daran fast zerbrochen


Lisa* war irgendwann nur noch übel. Sie wachte schon morgens mit dieser schrecklichen Übelkeit auf. „Ich habe oft geweint und auch rumgeschrien, weil ich nicht in die Schule gehen wollte“, erinnert sie sich. Wenn das Mädchen doch in die Schule gegangen ist, musste ihre Mutter sie am Vormittag wieder abholen, weil es der damals Zwölfjährigen nicht gut ging. „Wir haben gedacht, sie kann doch nicht immer daheim bleiben“, ­erinnert sich ihre Mutter Anne. „Aber es ging ihr immer schlechter.“ Dann begann ein Ärztemarathon.

Zuerst tippten die Mediziner auf einen Magen-Darm-Virus. ­Fehlanzeige. Es wurden Blutproben genommen, eine Magenspiegelung gemacht. Lisa war ständig übel, sie wurde immer dünner. „Sie hat unter 30 Kilo gewogen, bei einer Größe von 150 Zentimetern – das war richtig schlimm“, erzählt die zweifache Mutter. Außerdem entwickelte Lisa soziale Phobien, vermied Menschenmassen, geriet oft in Panik. Irgendwann wollte sie nur noch im Bett liegen. Die Fünftklässlerin aus dem schwäbischen Bobingen wurde schließlich in eine Klinik für Psychosomatik eingewiesen. Die Ärzte vermuteten, dass sie magersüchtig sei.

Die Schule war für Lisa ein Ort der Qual

Vier Wochen war sie in der Klinik, bis ihre Eltern sie auf eigene Verantwortung wieder rausnahmen. Denn langsam kamen sie dahinter, was hinter Lisas dauernder Übelkeit steckte: Sie wurde seit Monaten in der Schule gemobbt. Die Schule war für sie ein Ort der Qual. „Die Kinder hatten mir verrotzte Taschentücher in die Jackenärmel gesteckt. Ich wurde unter dem Tisch getreten, mir wurde immer wieder ein Bein gestellt. Bei einer Buchvorstellung wurde ich ausgelacht. Meine Lehrerin sagte nichts“, erzählt die heute fast 14-Jährige. „Ich habe immer wieder geweint und war sehr traurig.“

Lisa traute sich lange nicht, irgend­jemandem etwas von den Gängeleien, Schikanen und Tritten zu erzählen. Als sie sich schließlich ihrer Mutter anvertraute und diese bei der Lehrerin und der Schulsozialarbeiterin um ­Hilfe bat, stieß die 45-Jährige allerdings auf ­taube Ohren. „Die sagten mir, dass das kein Mobbing sei“, sagt die Mutter und redet sich gleich wieder in Rage. Lisa sei halt empfindlich, das seien ­alles Lappalien, hätten die Lehrer ihr erklärt. Zur Klasse habe die Lehrerin nur gesagt, die Kinder sollten doch netter zueinander sein. Sonst sei Mobbing nicht ­thematisiert worden.

Mobbing kann viele Facetten haben

Dabei sollten Schulen eigentlich sensibilisiert sein, denn Mobbing betrifft viele Kinder und hat gravierende Auswirkungen. Aber: Mobbing zu erkennen ist nicht immer leicht, denn es kann viele Facetten haben – Ausgrenzung, Erpressung, Schikanen, Hänseleien, fiese Gerüchte, Schläge … Und: Mobbing findet oft dann statt, wenn kein Erwachsener da ist.

Laut der jüngsten PISA-Studie fühlt sich in Deutschland fast jeder sechste 15-Jährige mehrmals im Monat gemobbt, fast jeder zehnte gab an, regelmäßig Ziel von Spott und Lästereien zu sein. Etwa zwei Prozent beklagten, dass sie immer wieder herumgeschubst und auch geschlagen werden. Oft reichen Kleinigkeiten aus, um ein Kind zum „Opfer“ zu machen. Bei Lisa waren es unter anderem ihre Zöpfe, über die sich die Klassenkameraden lustig gemacht haben. Freunde hatte sie nicht. Wie sehr sie ausgegrenzt wurde, merkte sie auch im Sport – bei Ballspielen wollte sie keiner im Team haben.

Schwierige Zeit für die Familie

Nicht nur Lisa hat in dieser Zeit gelitten, die Situation belastete auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester Nadja und ihre Eltern. „Für uns als Familie war das eine ganz schwierige Zeit. Uns ging es richtig schlecht“, resümiert die Mutter. „Unsere Jüngere ist in dieser Zeit viel zu kurz gekommen. Es drehte sich alles nur um Lisa, ihre Übelkeit, ihr Gewicht und ihre Angst vor der ­Schule.“ Auch die Beziehung zum Vater der beiden Mädchen hielt dem Druck nicht stand. „Ich fühlte mich von allen alleingelassen, auch von meinem Mann. Es hatte vorher schon gekriselt, aber das war dann zu viel. Inzwischen sind wir getrennt.“

Die Lösung für Lisas Probleme war schließlich ein Schulwechsel. Lisa musste ein Jahr wiederholen, weil sie zu oft gefehlt hatte. Weil Lisa in Menschenmassen noch immer Panik bekam, ­wandte sich Lisas Mutter an das Jugendamt. Dort bekamen sie einen Erziehungsbeistand. Eine Sozialarbeiterin half dem Mädchen, seine Ängste zu überwinden, fuhr zum Beispiel mit Lisa Bus und begleitete sie eine Zeit lang auch in die neue Schule. Eine Psychologin baute ihr Selbstbewusstsein wieder auf.

Lisas Rat heute: reden statt verdrängen

„An der neuen Schule gibt es jetzt keine Probleme. Wir haben vorher mit dem Schulleiter und den Lehrern gesprochen. Die waren sensibilisiert. Lisa hat in der neuen Klasse Freunde und geht wieder gerne in die Schule“, sagt die Mutter von Lisa. Die ständige Übelkeit ist verschwunden, das Mädchen hat wieder zugenommen.

Lisas Rat an Kinder, die auch gemobbt ­werden: nicht versuchen, alleine mit dem Problem klarzukommen. „Ich hätte es viel früher jemandem erzählen sollen. Irgendwie habe ich versucht, es zu vergessen, es zu ignorieren, aber es wurde immer schlimmer.“ Inzwischen gehe es ihr wieder gut. Um ihre alte Schule macht Lisa aber immer noch einen großen Bogen. „Ich habe Angst, dass ich da jemanden aus meiner alter Klasse treffen könnte.“

 

* Alle Namen in diesem Artikel wurden von der Redaktion geändert

 

Was tun bei Mobbing?

Info und Anlaufstellen

Wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler gemobbt fühlt, sind die ersten Anlaufstellen meist sinnvollerweise Lehrer, Schulleiter, Schulpsychologen oder auch die Schulberatung. Daneben können Betroffene aber auch – bei Bedarf anonyme – Hilfe und Informationen im Internet erhalten:

Beratungstelefon für Kinder, Jugendliche und Eltern – nicht nur, aber auch zum Thema Mobbing:
www.nummergegenkummer.de

Info und Hilfe von Schülern für Schüler:
www.schueler-gegen-mobbing.de

Beratung unter anderem bei Cybermobbing:
www.juuuport.de

Allgemeine Information zu Cybermobbing:
www.klicksafe.de/cyber-mobbing

Kostenlose Online-Beratung für Jugendliche:
www.jugendnotmail.de

Auf dieser Seite kann man erfahren, welcher Schulpsychologe für den jeweiligen Wohnort zuständig ist:
www.schulpsychologie.de

Was ist Mobbing, und was kann man dagegen tun?
www.familienhandbuch.de/babys-kinder/entwicklung/jugendliche/herausforderung/Mobbing.php



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