Denken & Diskutieren

Das große Wischen

Dauerstarren aufs Display, 1000 Textnachrichten pro Woche und Zocken als Spiele-Ersatz: Werden unsere Kinder wirklich zu Smartphone-Junkies?


Ihr checkt’s einfach nicht“, ist das vernichtende Urteil meines Sohnes. Wir sitzen beim Abendessen, und Jonas muss sich sehr über uns, die Elternschaft, die Schulleitung und Erwachsene im Allgemeinen aufregen. Der Grund: An seiner Schule wurde gerade ein Antrag der Schülergesamtvertretung abgeschmettert. Lehrerschaft und Eltern lehnten die Bitte um eine allgemeine Handyerlaubnis auf dem Schulgelände ab.

„Was ist so schlimm daran“, schimpft mein 15-Jähriger, „dass wir heute alle online sind? Ist doch viel praktischer als früher: Wir können jederzeit recherchieren, Dinge sofort erledigen und in der Pause online spielen und dabei entspannen. Was stört euch daran?!“ Puh. Auch mein Mann und ich hatten unsere Meinung abgegeben. Und haben diskutiert, was auf dem Zettel anzukreuzen wäre.

700-mal halten wir das Handy pro Woche in der Hand – 100-mal am Tag. Mehr als 70% der Jugendlichen bis 19 Jahre haben ein Smartphone

Mein Sohn und sein Smartphone leben in einer Symbiose: von morgens 6.35 Uhr, wenn es ihn weckt, bis abends um 22.30, wenn er den letzten Post absetzt und das Licht ausknipst. Über 1000 Textnachrichten erhält er in der Woche, greift zehn- bis 30-mal pro Stunde nach dem Handy. Telefoniert hat er im letzten Monat gerade zweimal. Er liegt damit im Durchschnitt: Eine deutsche Studie zeigte, dass wir etwa 50 Interaktionen am Tag mit dem Handy durchführen. Dafür halten wir es rund 100-mal am Tag in der Hand, also 700-mal in der Woche (siehe Tabelle). Eine britische Studie kam sogar auf das Doppelte.

Smartphone-Kinder: Als Mutter finde ich das Wahnsinn. Als berufstätige Durchschnittsfrau normal: Ich habe morgens um 7 Uhr auch schon zwei SMS geschrieben, in der WhatsApp-Klassengruppe geklärt, wer die Kinder heute zum Turnen fährt, habe gecheckt, ob die Bahn pünktlich fährt. Soll ich ihm da verbieten, was ich für mich selbstverständlich in Anspruch nehme? Wie hat Karl Valentin gesagt? Erziehen bringt gar nichts. Die Kinder machen uns eh alles nach. Abgesehen davon: Ich finde eigentlich, dass mein Großer seinen Medienkonsum mittlerweile ganz gut im Griff hat (was bei seinen kleinen Geschwistern im Alter von 10 und 7 Jahren noch nicht der Fall ist).

Ja, ich wundere mich manchmal, dass Teenager heute nicht mehr face to face kommunizieren, sondern via Bildschirm. Mich wundert, wie Kinder heute „Zusammen Zeit verbringen“ definieren: Drei sitzen im Zimmer und starren auf ihre Displays. Weist man sie darauf hin, das sei unhöflich, heißt es: „Mama, wir reden. Wir haben nur keinen Bock, dass du uns zuhörst!“ Ok, ich war mit meinen Freundinnen auch lieber ungestört.

Jonas kleine Geschwister scheuche ich oft in den Garten: „Was ist mit rausgehen? Spielen?“ – „Mama, wir spielen doch. Hier: Clash of Clans.“ Sie verziehen sich dann murrend ins Baumhaus und zocken dort weiter. Trotzdem sehe ich sie eine Stunde später mit den Nachbarskindern, in Faschingsklamotten verkleidet, „Clankriege“ spielen und imaginäre Mauerbrecher mit ihren Blechpistolen abschießen. Dann finde ich nicht, dass die virtuelle Welt die reale verdrängt.

Vielleicht liegt die erwachsene Skepsis gegenüber der Online-Welt auch daran, dass wir sie nicht überwachen können. Gab es in unserer Kindheit etwas Besseres, als sich der Überwachung der Erwachsenen zu entziehen? Was in meiner Jugend der Park hinter dem Feuerwehrhaus war, ist für die heutigen Jugendlichen WhatsApp oder Instagram.

Ich weigere mich, den Schreckgeschichten, Online-Skeptikern und Cyber-Warnern das Wort zu reden. Wir werden das Internet nicht mehr abschaffen, genauso wenig wie fließend Wasser. Klar, ich habe auch Angst vor den Gefahren: Happy Slapping, Mobbing, Sexting – das alles will ich meinen Kindern ersparen. Aber kann ich es, indem ich sie fernhalte? Auch mein Sohn hat schon Unterwäschefotos verschickt. Um Grenzen festzulegen, muss man sie manchmal erst überschreiten.

„Es ist wichtig zu erkennen, dass an den Problemen nicht die Technologien schuld sind, sie machen die vorhandenen Probleme nur sichtbarer“, schreibt die amerikanische Medienwissenschaftlerin Danah Boyd in ihrem Buch „Es ist kompliziert“ (Redline Verlag). Wurde nicht jede neue Technologie erst mal verteufelt? Als der Walkman aufkam, hieß es, wir würden alle taub werden. Als die Nähmaschine erfunden wurde, gab es Befürchtungen, die Trittbewegung würde die weibliche Sexualität beeinflussen.

Ich teile durchaus die Meinung der Psychologin Isabel Willemse, die vor den negativen Auswirkungen von Mediennutzung warnt: „Die Angebote sind verlockend und reichhaltig. Kinder und Jugendliche sind noch nicht fähig, sich selbst einzuschränken. Die Entwicklung des Gehirns ist in manchen Bereichen erst zu Beginn des Erwachsenenalters abgeschlossen“ („Onlinesucht“, Hogrefe Verlag). Das gelte vor allem für den Frontalkortex, wo Planung, Disziplin und Selbstkontrolle stattfinden. Gerade deshalb glaube ich bei meinen kleineren Kindern auch fest an Medienzeiten (an vier Werktagen vier Stunden, ein Tag ist medienfrei, Wochenenden laufen anders). Trotzdem sehe ich nicht, dass wir unsere Kinder mit Smartphones um den Verstand bringen.

Smartphonitis in Zahlen

  • 98-mal am Tag schauen Kinder und Jugendliche von elf bis 18 Jahren durchschnittlich auf ihr Smartphone. 3 Stunden verbringen sie damit. Ein Viertel der Jugendlichen aktiviert sein Handy sogar 130-mal am Tag. Davon ausgehend, dass die jungen Leute acht Stunden schlafen und 16 Stunden wach sind, unterbrechen sie sich damit durchschnittlich alle 7 Minuten bei einer Tätigkeit.

  • 48 % der Kinder und Jugendlichen gaben in einer Umfrage zu, dass ihr Handy sie ablenkt, zum Beispiel bei den Hausaufgaben.
    20% haben sogar schon einmal
    schulische Probleme durch intensive Smartphone-Nutzung bekommen. Jeder Vierte beklagt sich über Kommunikationsstress.

  • Erwachsene aktivieren den Bildschirm ihres Smartphones durchschnittlich 88-mal am Tag. 35-mal davon schauen sie auf die Uhr und sehen nach, ob eine Nachricht eingegangen ist. Die restlichen 53 Male entsperren sie das Handy, um mit ihm zu interagieren, also E-Mails zu schreiben, Apps zu benutzen oder
    zu surfen. Wir unterbrechen also alle 18 Minuten die Tätigkeit, mit der wir gerade beschäftigt sind.

  • Von den Zwölf- bis 13-Jährigen
    haben heute bereits 85 % ein
    internetfähiges Handy.
    60 Prozent der Mädchen zwischen
    14 und 19 Jahren würden eher für eine Woche auf Alkohol, Fernsehen und ihr Liebesleben verzichten als auf ihr Smartphone.

  • 15 Minuten benötigen wir, um uns voll auf eine Sache zu konzentrieren.
    Die 16. Minute ist die erste wirklich produktive. Wer in seiner Konzentration gestört wird oder aussteigt, braucht anschließend wieder 15 Minuten, um sich vollends auf die Aufgabe zu konzentrieren.

  • Der überwiegende Teil der Eltern
    schränkt die Nutzung der Geräte durch die Kinder zeitlich ein. Was ihre Kinder genau machen, wissen und beschränken hingegen nur wenige Eltern im Detail. Technische
    Möglichkeiten werden selten genutzt.
    15 % der Eltern betreiben praktisch gar keine Handyerziehung.

Was ich aber sehe, ist, wie alleingelassen wir Eltern sind. Zwischen „Die anderen dürfen alle“-Diskussionen, „Wenn ich mich nicht auch anmelde, habe ich keine Freunde mehr“-Dramen und den Horrorwarnungen der Medien versuchen wir uns ohne verlässliche Regulatorien so hindurchzulavieren. An den Schulen gibt es immer noch kein Fach „Medienkunde“. Und der Gesetzgeber? Versagt. Wir regeln das Betreten von Gaststätten, Alkoholgenuss, die Teilnahme an Tanzveranstaltungen – Jugendschutz in der Öffentlichkeit wird riesengroß geschrieben. Nur von der Öffentlichkeit im Netz haben wir keinen blassen Schimmer. Und der KJM (Kommission für Jugendmedienschutz) fällt nichts Besseres ein als Filtersysteme, die nicht mal Wikipedia zulassen, sodass man sie nach 24 „Achtung – für diesen Zugriff fehlt dir die Berechtigung“-Meldungen entnervt wieder ausstellt.

Wie viel Handy ist verantwortlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass im Gespräch bleiben hilft. Zu erklären, dass die Zahl der „Likes“ kein Maßstab ist fürs Glücklichsein. Zu verstehen, dass die „ausnahmsweise halbe Stunde“ mehr Medienzeit dasselbe ist, wie „die halbe Stunde länger im Park“ zu meiner Zeit. Dass das Schnüffeln im Account der Tochter ungefähr so ist, wie wenn unsere Mütter unsere Tagebücher gelesen hätten. Es ist anstrengend. Man nennt das auch Erziehung. Übrigens: Wo mein Mann und ich das Kreuz dann gemacht haben? Wir stimmten gegen die generelle Handyerlaubnis. Wenn auch mit leichtem Bauchweh.



Unsere Themen im Überblick

  1. „Auch mein Sohn hat schon Unterwäschefotos verschickt…“ Findet die Autorin das in Ordnung??? Erschreckend, mit welchen Medien/Möglichkeiten unsere Kinder heutzutage alleingelassen werden!

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