Meinen & Sagen

Wie können wir Flüchtlingskinder integrieren?

Zu akzeptieren, dass wir nicht in einer homogenen Welt leben, würde die Integration von Flüchtlingskindern einfacher machen, sagt die Entwicklungspsychologin Berrin Özlem Otyakmaz


Frau Otyakmaz, Sie sind Wissenschaftlerin und Mutter von achtjährigen Zwillingsjungen. Sind Flüchtlingskinder auch Thema bei Ihnen am Abendbrottisch?
Ja, natürlich. Wir versuchen, den Kindern auf Augenhöhe die Fluchtursachen zu erklären: Krieg, Verfolgung, Vertreibung. Die Kinder sagen nach solchen Gesprächen oft, dass sie froh sind, dass hier kein Krieg ist.

Wie geht es heute Kindern, die in den letzten Monaten nach Deutschland geflüchtet sind?
Schön wäre es, wenn man sagen könnte: Alle haben inzwischen regulären Zugang zu Kindertageseinrichtungen oder Schulen gefunden. Aber das ist leider nicht der Fall. Die Verschärfung der Asylgesetzgebung Ende 2015 hat dazu geführt, dass die Kinder und ihre Familien viel länger als vorher, nämlich bis zu sechs Monate und viel länger, als man zuerst dachte, in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben müssen. Die Lebenssituation dort ist aber unzureichend und in keiner Weise kindgerecht, das bemängelt auch der aktuelle ­UNICEF-Lagebericht zur Situation der Flüchtlingskinder in Deutschland.

Jedes Flüchtlingskind hat ein Recht auf Bildung. Und zwar vom ersten Tag in Deutschland an

Aber jedes Kind, das in Deutschland lebt, hat doch laut UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Bildung!
Theoretisch ja! Und zwar vom ersten Tag an, an dem es sich in Deutschland befindet. Dieses Recht auf Bildung wird leider nicht ­gewährleistet. Auch das wird von ­UNICEF kritisiert.

Welches sind die größten Probleme bei der Integration der geflüchteten Kinder?
Eine Schwierigkeit ist, dass die Wohn- und Lebenssituation der Kinder häufig nicht kindgerecht ist. Sie leben beengt, haben keine Rückzugsmöglichkeiten. Altersgerechte Spiel- und Freizeitmöglichkeiten sind kaum gegeben. In den Erstaufnahmeeinrichtungen und in Gemeinschaftsunterkünften für geflüchtete Menschen gibt es kaum Möglichkeiten, in Ruhe zu lernen, geschweige denn, sich zu erholen. Außerdem bräuchten viele Kinder therapeutische Hilfe, weil sie traumatisiert sind. Aber diese Angebote gibt es kaum, weder in den Einrichtungen noch in der Schule.

Wie schnell geht eigentlich die schulische Integration?
Es gibt ja nicht „das Flüchtlingskind“ – die Gruppe der geflüchteten Kinder ist sehr heterogen. Einige können in ihrer Muttersprache sehr gut lesen und schreiben, standen in ihrer Heimat vielleicht sogar kurz vor dem Abitur. Andere können zwar lesen und schreiben, sind aber nicht in lateinischer Schrift alphabetisiert worden; wieder andere haben nie eine Schule besucht. Aber auch wenn die Kinder einige Monate in die Schule gehen und Spezialunterricht bekommen, heißt das nicht, dass sie dann schon die deutsche Bildungssprache auf dem Niveau eines in Deutschland aufgewachsenen Kindes beherrschen.

Fehlende Deutschsprachkenntnisse sind ja auch für die Lehrerinnen und Lehrer eine große Herausforderung im Unterricht. Wie gehen die damit um?
Das stimmt. Aber unterschiedliche Deutschsprachkompetenzen und die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler sind ja keine neuen Phänomene. Das gehört zur deutschen Realität, und dafür gibt es pädagogische Konzepte.

Migrationsexpertin

Berrin Özlem Otyakmaz lehrt und forscht seit zwei Jahrzehnten zu Fragen von Erziehung, Bildung und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in der Migrations­gesellschaft. Sie ist als promovierte Entwicklungspsychologin an der Universität Kassel tätig und habilitiert sich im Bereich Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Migration

Entwicklungspsychologin Berrin Özlem Otyakmaz – Magazin SCHULE

    Zum Beispiel?
    Die pädagogische Konzeption der durchgängigen Sprachbildung. Das heißt, dass Deutsch nicht nur im Deutschunterricht oder in Spezialklassen vermittelt wird, sondern über alle Bildungsstufen hinweg und systematisch – auch im regulären Fachunterricht. Es geht vor allem darum, dass Inhalte von allen verstanden werden. Bei diesem Konzept lässt die Lehrerin oder der Lehrer dann auch eine andere Sprache als Deutsch im Unterricht zu und sieht in der Mehrsprachigkeit der Kinder kein Problem, sondern betrachtet sie als Bildungsressource.

    Können Sie das genauer erläutern?
    Ein Beispiel: Ein mehrsprachiges Kind, das länger in Deutschland lebt oder hier aufgewachsen ist und gleichzeitig über ­Deutschsprach-­ und über arabische Familiensprachkompetenzen verfügt, erklärt seinem Mitschüler, der weniger Deutsch versteht, den Lerninhalt in arabi­scher Sprache. Die Lehrkraft unterbindet dies nicht, indem sie darauf verweist, dass im Unterricht nur Deutsch gesprochen werden darf. Nein, im Gegenteil: Sie unterstützt, dass der Sachverhalt verstanden wird, und zeigt Wertschätzung für die Mehrsprachigkeit der Kinder. Dieser heterogenitätsorientierte Ansatz fördert alle – auch leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler. Diese suchen manchmal andere Erklärungswege, vermitteln Wissen mit anderen Worten und auf andere Weise als die Lehrkräfte. Solche Prozesse stärken nicht nur ihr Selbstbewusstsein. Ihr Wissen wird so noch mal anders gefestigt.

    Wenn man sich die Zahlen anschaut, kann niemand von einer ’nicht bewältigbaren Masse‘ sprechen

    Wie viele Flüchtlingskinder sitzen im Durchschnitt in einer Regelklasse?
    Das ist von Schule zu Schule verschieden; in einigen sind drei oder vier Flüchtlingskinder in einer Regelklasse. In anderen Klassen gibt es gar keine. Wenn man sich aber die Zahlen anschaut, kann niemand von einer „Flut“ oder einer „nicht bewältigbaren Masse“ sprechen, wie in der Diskussion um das Thema manchmal der Eindruck entstehen mag.

    Wie sehen die Zahlen denn aus?
    Es gibt in Deutschland etwa elf Millionen Schülerinnen und Schüler. Im Jahr 2015 sind circa eine Million Flüchtlinge zu uns gekommen, davon etwa ein Viertel im schulfähigen Alter. Runtergerechnet heißt das: ein Kind pro 50 Schülerinnen und Schüler, also ein geflüchtetes Kind auf ein bis zwei Schulklassen.

    Trotzdem sind Eltern in Sorge: „Was passiert mit meinem Kind, wenn Flüchtlingskinder in der Klasse sind? Wird es weniger lernen?“
    Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen. Die haben übrigens nicht nur Eltern, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer. Aber wir können den besorgten Menschen zunächst einmal die Statistik vor Augen führen. Und dann müssen wir uns das deutsche Bildungssystem anschauen, das homogenitätsorientiert ist.

    Erklären Sie bitte einmal „homogenitätsorientiert“!
    Es gibt die Vorstellung: Gute Bildung und Lernen in der Schule kann nur stattfinden, wenn die Schülerschaft möglichst homogen ist. Das System reagiert auf alle, die von ­einer definierten Norm abweichen, mit Irritation und einer Tendenz zur Selektion. Egal, ob das leistungsschwache Schülerinnen und Schüler sind oder besonders leistungsstarke, Kinder mit sogenanntem Migrations­hintergrund oder Kinder aus bildungs­fernen Schichten, Kinder mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen.

    Bildungskongress der Buchmesse

    Bildungskongress Buchmesse Frankfurt
    • Etwa 300 000 geflüchtete Kinder und Jugendliche sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen. Sie besuchen heute deutsche Schulen und Kitas. Eine große Herausforderung – und eine große Chance.
      Wie Integration gelingen kann, darüber haben  Pädagogen, Psychologen, Traumapädagogen und andere Fachkräfte auf dem ­Bildungskongress der Frankfurter Buchmesse diskutiert. Berrin Özlem Otyakmaz hat dort den Hauptvortrag gehalten.

      Das Magazin SCHULE war Medienpartner des Bildungskongresses.

    Ist das typisch deutsch?
    Das deutsche Bildungssystem war immer schon auf Homogenität ausgerichtet. Nehmen wir das Phänomen des Sitzenbleibens. Aber natürlich auch durch die Trennung der Schülerinnen und Schüler in den weiter­führenden Schulen, also Haupt­schule, Realschule, Gymnasium, sollen ­möglichst homogene Klassen hergestellt werden.

    Was wäre Ihrer Meinung nach ein guter, ein gangbarer Weg?
    Gesellschaftlich fördern und fordern wir die Individualität des Menschen. Es gibt kaum einen Erziehungsratgeber, der Eltern nicht nahelegt, ihre Kinder als kleine Persönlichkeiten wahrzunehmen und sie in ihrer Einzigartigkeit zu fördern. In der Schule aber werden individuelle Bedürfnisse und Befähigungen der Kinder als Störung wahrgenommen! Das ist ein Widerspruch. Deshalb: Wir müssen, nein, wir dürfen damit leben und davon profitieren, dass es in Klassen unterschiedliche Wissensstände, Deutsch- und andere Sprachkenntnisse, also: Heterogenität gibt. Und übrigens: schon immer gab – und immer schon auch migrationsunabhängig. Das ist überhaupt nicht neu! Und natürlich gibt es didaktische Konzepte, die auf diese Realität reagieren, konkret etwa Stationslernen, Wochenpläne, Lernwerkstätten, Lernprojektarbeit. All diese methodischen Ansätze nehmen Bezug auf die unterschiedlichen Lernstände, Lernwege und Lernformen in der Gruppe.



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