Wundern & Wissen

Zickenalarm im Klassenzimmer

Treten, schubsen, Gerüchte verbreiten – Aggressionen vergiften das Klassenklima und halten vom Lernen ab. Oft sind nicht einzelne Mobber verantwortlich, sondern alle Schüler. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die Mädchen


Der Ernstfall trat zu Beginn des Schuljahrs ein, erinnert sich Lehrerin Sandra Ihlefeld-Link aus Overath bei Köln: „Ein Mädchen meiner sechsten Klasse verhielt sich intrigant, verbreitete Unwahrheiten, beschimpfte Mitschüler und spielte Freundinnen gegeneinander aus.“ Innerhalb weniger Wochen dominierte Aggression das Klassenklima – an Lernen war nicht mehr zu denken.

Eltern kennen solche Situationen: Ihre Kinder fühlen sich plötzlich unwohl in der Klasse, konzentrieren sich auf Konflikte statt auf den Schulstoff. „Damit Erzieher Aggression bekämpfen können, müssen sie verstehen, wie sie sich entwickelt und was sie beeinflusst“, sagt der Sozialpsychologe Robert Busching von der Universität Potsdam.

Klassengemeinschaften sind soziale Biotope. Cliquen wachsen, Rollen entstehen, Schüler fechten Konflikte aus. Der tägliche Umgang miteinander formt das Klassenklima: die Einstellungen also, die in der Gruppe dominieren. Schüler, die sich der Klassennorm besonders gut anpassen, sind beliebt. Kein Wunder, dass Jugendliche darum wetteifern, den herrschenden Überzeugungen und Verhaltensweisen zu entsprechen. Möglicherweise mit fatalen Folgen, wenn die Gemeinschaft vorgibt: Aggressives Verhalten ist erwünscht.

Wie die Klassennorm das aggressive Verhalten einzelner Schüler beeinflusst, wollte Busching genauer wissen: Verwandeln sich friedliche Siebtklässler unter dem Einfluss aggressiver Mitschüler in gewaltbereite Teenager? Wie verhalten sich Prügler und Mobber in Klassengemeinschaften, die Gewalt ablehnen? Wer prägt das Klassenklima stärker: Mädchen oder Jungen? Mit seiner Kollegin Barbara Krahé hat er 1321 Jugendliche aus 72 Klassen und 14 Berliner Schulen aller Schulformen von der siebten bis zur zehnten Klasse beobachtet. Das Ergebnis überraschte die Forscher.

Nicht prügelnde Jungen, sondern die Mädchen steuern die Klassengemeinschaft. Akzeptieren sie Aggression, fühlen sich weibliche wie männliche Mitschüler frei, ihre Überzeugung auszuleben: Manche verhalten sich aggressiv, manche friedlich. Die Friedlichen werden mit der Zeit immer weniger – viele passen sich der Klassennorm an.

Lehnen Mädchen dagegen Aggression ab, verhalten sich alle Schüler friedlicher – und zwar unabhängig von eigenen Überzeugungen. Warum? „Mädchen vertreten oft gleiche Einstellungen und haben möglicherweise mehr Einfluss in der Klasse als Jungen“, sagt Busching. „Hinzu kommt, dass Jungen sich in der Pubertät stärker an gleichaltrigen Mädchen orientieren und sich deshalb ihren Normen anpassen. Mädchen dagegen orientieren sich meist an älteren Jungen.“

Erkenntnisse, die für die Prävention bedeutsam sind: „Oft denkt man, dass die Gruppe mit dem aggressiven Verhalten Einzelner nichts zu tun hat – das ist falsch“, sagt Busching. Lehrern rät er, die ganze Klasse, und vor allem die Mädchen, in Präventionsmaßnahmen einzubinden: „Wenn die Klasse als Ganzes Aggression ablehnt, verhalten sich alle Schüler friedlicher.“

Eltern können ebenfalls zur friedlichen Klassengemeinschaft beitragen: „Wichtig ist, bei jeder Gelegenheit zu kommunizieren, dass Aggression nicht akzeptabel ist“, appelliert Sozialpsychologe Busching. Auch dann, wenn das Kind Gewalt nur im Fernsehen oder bei anderen beobachtet. „Sonst kommt es zu dem Schluss, dass ihre Eltern Gewalt tolerieren. Mit fatalen Folgen für den Klassenfrieden.“



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