Lesen & Leben

Ziemlich beste (Pferde-)Freunde

Mädchen lieben Pferde. Gut so, sagen Forscher – und raten überhaupt zum Reitsport: Er schult nicht nur Gleichgewicht und Haltung, sondern fördert auch die persönliche und soziale Entwicklung von Kindern


Wie bei jeder großen Liebe ist Widerstand zwecklos. Wenn die Pferdeverrücktheit zuschlägt, tapezieren junge Mädchen von heute auf morgen ihre Zimmer mit Pferdepostern, lesen plötzlich „Wendy“ und Bücher mit Hufeisen auf dem Titel, verbringen jede freie Minute im Stall und horten alles, worauf die Vierbeiner zu sehen sind. Klamotten, Schulhefte, Fahrradhelme – auf einmal ist nur noch gut, worauf ein Pferdkopf prangt. Auch klar, dass nun ständig um Reitstunden gebettelt wird, um ein eigenes Pferd oder wenigstens eines zur Pflege.

Rund 90 % der unter 14-jährigen Mitglieder von Reitvereinen sind Mädchen

Pferdeliebe kann anstrengend sein. Das wissen vor allem Eltern von Töchtern, denn Pferde faszinieren hauptsächlich Mädchen. Rund 90 Prozent der unter 14-jährigen Mitglieder in Reitvereinen sind weiblich, und auch mit zunehmendem Alter ändert sich dieses Verhältnis kaum. Im Spitzensport finden sich zwar auch Männer, doch in den Reitställen der Republik sieht man sie eher selten. Dabei waren Pferde einst typische Männertiere: Als Statussymbol waren sie der ganze Stolz ihrer Reiter und standen für Macht, Mobilität und Krieg. Diese Zeiten sind längst vorbei.

Heute wird lieber gekuschelt, gestriegelt und gestreichelt. Die Pferdewelt ist fest in Frauenhand. Reitsport selbst spielt dabei für viele Mädchen eine eher untergeordnete Rolle. Viel wichtiger sind Putzen, Ausmisten und Füttern der Pferde, sprich: die Fürsorge für ein anderes Lebewesen. Wissenschaftler an der Universität Kassel haben die klassische Verbindung Pferd–Mädchen bereits untersucht und sich mit den Gründen dieser Faszination befasst. Sie kommen zu dem Schluss, dass es sich um ein Beziehungsphänomen handelt. Das bestätigt auch der Münchner Diplom-psychologe Holger Simonszent. „Die soziale Interaktion mit dem Pferd ist für Mädchen zentral, da sind echte Gefühle im Spiel“, sagt er. Pferde gäben jungen Mädchen die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, sich um jemanden zu kümmern und ihn sogar zu erziehen. In gewisser Hinsicht sei dies die Fortführung des Puppenspiels – allerdings mit echten Lebewesen, die Emotionen zeigten und auf die Kinder reagierten. Manche Forscher sehen darin sogar eine Art Ausprobieren der späteren Mutterrolle. Weil für Jungs im gleichen Alter Wettkampf und Kräftemessen wichtiger seien als Pflege und Fürsorge, zeigten sie auch weniger Interesse für Pferde und Reitsport.

Dieser Tendenz versuchen Verband und Vereine seit Jahren entgegenzusteuern, zu ihrem Leidwesen mit mäßigem Erfolg. Für viele Jungs bleiben Pferde so uninteressant wie Ballett: zu wenig Action, zu wenig Gleichgesinnte und Vorbilder männlichen Geschlechts.

Der Umgang mit dem Pferd hat ihr Ruhe und Selbstvertrauen gegebenLisa Janku über ihre  Schwester

„Schön, groß, stark“ findet hingegen die achtjährige Felicia Janku ihre Lieblingstiere. Sie drückt ihr Gesicht an den sandfarbenen Hals von Wallach Chocice und lächelt selig. Heute ist wieder ein toller Tag – ein „Pferdetag“. Also einer, an dem sie ihre große Schwester Lisa, 24 Jahre, überreden konnte, sie mit in den Stall zu nehmen. Lisa nämlich gehört der gutmütige Wallach, bei dem Felicia am liebsten jede freie Minute verbringen würde. Wenn sie im Stall ist, darf die Grundschülerin seine Hufe auskratzen, sein Fell striegeln, kleine Wunden verarzten und manchmal sogar reiten. Anfangs hatte sie Angst, doch im Laufe der Zeit hat sie gelernt, die Körpersprache des Pferdes zu deuten und sich richtig zu verhalten. Nun folgt ihr der Wallach beim Führen vertrauensvoll und akzeptiert sie auf seinem Rücken. „Der Umgang mit dem Pferd hat ihr mehr Ruhe und Selbstvertrauen gegeben“, glaubt ihre Schwester Lisa, die selbst seit frühester Kindheit reitet und ihr Pferd vor vielen Jahren aus schlechten Umständen rettete.

 

Neue Forschungsergebnisse bestätigen die überaus positiven Auswirkungen des Umgangs mit Pferden. Laut einer von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) in Auftrag gegebenen repräsentativen Studie fördert er die persönliche und soziale Entwicklung von Jugendlichen. So seien Reiter oft besonders durchsetzungsstark, zielstrebig und kontrolliert, aber auch sensibel, begeisterungsfähig und empathisch. „Insbesondere junge Menschen finden in Pferden nicht nur einen Freund, sondern lernen von ihm auch fürs Leben“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie.

Das ist durchaus plausibel. Denn neben den körperlichen Aspekten – Reiten schult die Balance, Koordination und eine gerade Haltung – wirkt regelmäßige Interaktion mit Pferden auf Kinder ebenso fordernd wie förderlich. Mit Schüchternheit, Ungeduld oder gar Gewalt kommt man bei den großen Tieren eben nicht ans Ziel. Stattdessen sind Konsequenz, Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Selbstvertrauen gefragt. Kein Zufall, dass Pferde häufig zu Therapiezwecken oder in Führungsseminaren eingesetzt werden. Denn wer es nicht schafft, Vertrauen und Autorität auszustrahlen, dem wird kein Pferd (von Natur aus ein Fluchttier!) widerstandlos folgen.

Was Kindern ebenfalls guttut: Pferde scheren sich nicht um Aussehen, Alter, Coolness oder Schulnoten. Man kann sich mit ihnen sogar ganz ohne Worte verständigen. Haben die sanften Vierbeiner also das Zeug zum Coach fürs Leben?

Die Verantwortung für ein Pferd zu übernehmen macht Mädchen selbstbewussterHolger Simonszent, Diplompsychologe

Durchaus, findet Holger Simonszent. Der Münchner Psychologe ist von den positiven Effekten, die Pferde auf Kinder haben, fest überzeugt: „Pferde sind für junge Mädchen wie Freunde, um die sie sich kümmern und für die sie Verantwortung übernehmen können. Das macht sie selbstbewusster, selbstständiger und oft auch sozial kompetenter.“ Denn vieles von dem, was im Umgang mit Pferden gilt, lässt sich auch auf den Kontakt mit Menschen übertragen.

Meist erwacht die Pferdeliebe gegen Ende der Grundschulzeit, oft ebbt sie langsam ab, wenn die Pubertät das Kommando übernimmt. Dann werden andere Dinge wichtiger: der erste Freund, Partys, Freunde. Die Lebenswelt verändert sich, oft haben Hobbys wie Pferde und Reiten keinen Platz mehr darin.

„Die Pubertät ist eine Phase der Selbstfindung, die Umbrüche mit sich bringt. Manchmal verliert das Pferd dann vorübergehend oder auch gänzlich an Bedeutung“, sagt Simonszent. Eltern sollten das im Hinterkopf behalten, wenn kleine Mädchen beteuern, ein eigenes Pferd sei ihr größter und einziger Wunsch. Eine Reitbeteiligung oder eine Patenschaft könnte deshalb für viele Familien die bessere Lösung sein.

Ab 15 Jahren werden oft andere Dinge wichtiger als Pferde: Freunde, Partys, Jungs

Doch natürlich gibt es auch Geschichten wie die von Lara Appelhoff und ihrem Pferd Devil. Lara ist 17 Jahre alt, besucht die elfte Klasse des Gymnasiums, hat ordentlich zu lernen, einen vollen Terminkalender und außerdem einen festen Freund. Trotzdem steht ihr goldfarbener Palomino-Wallach ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Als ihre Eltern ihr das Tier zum Geschenk machten – nach einiger Überzeugungsarbeit –, war Lara zwölf Jahre alt. Devil war noch ein Fohlen. „Wir sind quasi zusammen aufgewachsen“, erzählt Lara, die das temperamentvolle Pferd selbst eingeritten und ausgebildet hat. Und nicht nur das: Außerdem hat sie Devil ein paar Kunststückchen beigebracht, die nicht jedes Pferd beherrschen dürfte, zum Beispiel, sich auf Kommando hinzulegen und zähnefletschend zu grinsen.

Beide eint nicht nur der Sinn für Spaß. Ein Leben ohne Devil kann sich Lara nicht vorstellen. Dass das Haltbarkeitsdatum der Pferdeliebe bei vielen Mädchen ihres Alters rasch abläuft, hat sie selbst schon beobachtet. Sogar ihre Freundinnen verstehen manchmal nicht, warum sie immer noch so viel Zeit im Stall verbringt. „Devil ist eben mein bester Freund“, erklärt Lara und lächelt, „das wird auch immer so bleiben.“



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