Denken & Diskutieren

Irgendwas kommt immer zu kurz

Irgendwas wartet immer: Meetings, Haushalt, Schulaufgaben. Der tägliche Kraftakt zwischen Beruf und Familie raubt gestressten Eltern und Kindern den letzten Nerv. Höchste Zeit, sich die Freude am Familienleben zurückzuerobern!


Komisch, im Moment geht es immer nur um eins. Brigitte ist todunglücklich, weil sie gestern wieder mal alle angeschrien hat, sogar den Hund: „Mir wird einfach alles zu viel.“ Am Elternstammtisch klagen engagierte Väter, es könne doch wohl nicht sein, dass berufstätige Eltern um halb neun Uhr abends mit ihren Kindern noch Mathe lernen müssten. Auch der Kinofilm „Eltern“ beschreibt das Höllenleben moderner Paare, die sich zwischen Karriere, Küchentisch und Kinderzimmer aufreiben. Und in klugen Leitmedien zürnen Essayisten, dass es mit der angeblichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht weit her sei.

Nur noch 32% aller Kinder leben in Einverdiener-Haushalten. 2010 waren es noch 40%.World Vision Deutschland

Liegt womöglich Revolution in der Luft? Zeit wär’s! Die meisten Familien, die wir kennen, sind nämlich längst vom Leben am Limit erschöpft. Die Tage sind voll bis obenhin. Kindheit wurde ersetzt durch ellenlange Schultage und von den Großen verordnete Nachmittagsaktivitäten. Vater und Mutter jonglieren währenddessen im Schweinsgalopp die täglichen Aufgaben und nennen das Multitasking. Sie haben immer ein schlechtes Gewissen, allen gegenüber: den Kindern, dem Partner, dem Chef, den Kollegen. Vor lauter Weltretten und 148-Mails-Checken reichen Kraft und Nerven nur noch für das Nötigste daheim, für Vokabeln abhören und Essen machen. Auf der Strecke bleibt: die Freude am Familienleben.

An Elternstammtischen werden neuerdings wilde Pläne geschmiedet: kündigen, sich aus den Hausaufgaben völlig raushalten oder wenigstens Downshifting in Sachen Haushalt? „Hauptsache“, spricht Kurt, Vater zweier Siebtklässler, „der Wahnsinn hat ein Ende.“ Kurts erste Maßnahme: kein Frühsport mehr am Samstagmorgen, zugunsten erholsamen Schlafs.

Als „große Erschöpfung“ benennt Der „Spiegel“ die Malaise: „Das Gefühl ,Ich sehe meine Kinder zu selten‘ ist vermutlich der ständige Begleiter der allermeisten berufstätigen Eltern.“ Und weiter: „In Familien führt der Druck, Quality-Time miteinander verbringen zu müssen, zu Anspannung und Streit.“

Kein Wunder, dass sich nahezu 50 Prozent der Eltern von familiären Konflikten und 60 Prozent durch ihren Job gestresst fühlen, wie eine Studie der Techniker Krankenkasse belegt. Vor allem Frauen zwischen 35 und 45 Jahren fühlen sich wie durch die Mangel gedreht. Von den Kindern ganz zu schweigen. Beunruhigende 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland gelten als psychisch auffällig, allein die Zahl der ADHS-Fälle ist in den vergangenen Jahren um 42 Prozent gestiegen.

Jeder 6. kommt auf mehr als 48 Arbeitsstunden wöchentlich. 2 von 3 arbeiten auch an Samstagen.Stressreport

Ist ja auch irre, wie wir leben. Der Alltag vieler Familien läuft nur durch Unterstützung wechselnder Babysitter, (Leih-)Omas, Erzieherinnen und Putzfrauen. Unseren Kindern beteuern wir, sie seien unser Wertvollstes, nur leider gerade jetzt nicht, keine Zeit. Wir haben generell zu wenig Muße zum Trödeln und Zärtlichsein. Moderne Zeiten. Die Familie 2.0 muss funktionieren.

Das macht sie aber nicht. Chaos lauert überall. Zu den unpassendsten Gelegenheiten fangen sich Kinder ein Magen-Darm-Virus ein und gefährden damit die megawichtige Präsentation, im Zweifelsfall die ihrer Mutter. Wir haben auch erlebt, wie eine Kollegin in der Hektik des Alltags vergaß, eines ihrer drei Kinder vom Ballett abzuholen, während ein anderes Kind am ersten Schultag im Bus bis ans andere Ende der Stadt durchrauschte. Permanent müssen Eltern aushandeln, wer wann was macht und wer was wieder gut hat. Und wehe, wenn die Ferien nahen und der Hort drei Wochen schließt.

Nebenbei: Dass diese Art Dauerstress aus einem Ehepaar langsam, aber sicher eine Notgemeinschaft zweier gereizter Seelen macht, kann man sich vorstellen. Es mag ja Paare geben, die bei einem streng durchgetakteten, auf Kante genähten Rhythmus nichts vermissen. Vielen geht es aber so wie Opernstar Anna Netrebko und ihrem Erwin Schrott, deren Liebe zwischen Auftritten in New York, Salzburg und Buenos Aires flöten ging. Auch als Normalopaar fühlt man sich gelegentlich wie auf verschiedenen Kontinenten, wenn nicht gar Planeten.

Mehr als 60% der Eltern  fühlen sich durch ihren Job gestresst.Techniker Krankenkasse

Zuverlässiger Brandbeschleuniger ist hier der Kampf um das Thema Haushalt. Damit werden Frauen häufig immer noch alleingelassen. Die Statistik zeigt, dass selbst bei Paaren, wo beide Vollzeit arbeiten, meist die Frau fürs Waschen, Kochen, Putzen zuständig ist.

Das Institut für Demoskopie Allensbach weiß, dass immer noch über 60 Prozent der Männer glauben, Frauen hätten ein besonderes Talent für Hausarbeit. Gleichzeitig erwarten 76 Prozent der Herren, dass ihre Frau berufstätig ist, wie eine Umfrage des Wirtschaftszentrums für Sozialforschung ergab.

Ach, früher war die Welt noch in Ordnung, zumindest für die Kinder. Es war immer einer, besser: eine zu Hause. Zugegeben, manchmal mit Migräne auf dem Sofa liegend und die eigene undankbare Rolle verfluchend, aber immerhin: Hausfrau war noch kein Schimpfwort. Alleinverdiener schafften es damals, einen Vierpersonenhaushalt durchzufüttern. Ein ruhiges, bescheidenes Leben für die meisten, aber respektiert.

Meine Eltern haben oft  nur wenig Zeit für mich, sagen 57% der 14- bis 17-Jährigen.IfD Allensbach/Jacobs Krönung

Heute sind Eltern zum Kraftakt verdonnert. Warum? Familienleben und Hausarbeit müssen abends stattfinden, nach der Arbeit, sozusagen als zweite Schicht. Das ist anstrengend und frustrierend für Vater, Mutter, Kind.

Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe. Zu den äußeren Faktoren gehört, dass zumindest in den Metropolen viele Familien heute auf zwei Einkommen angewiesen sind. Horrende Mieten erzeugen Druck. Dampf macht auch die Politik, vor allem den Müttern. Die Botschaft des neuen Unterhaltsrechts lautet: Keine Frau kann es sich mehr leisten, wegen der Kinder ihren Job aufzugeben. Im Falle einer Scheidung ist das zu riskant. Und wozu sonst werden wohl die vielen Kitas und Ganztagsschulen forciert?

Die Wirtschaft jedenfalls freut sich, wenn die Kinder verräumt sind. Die Eltern haben genug Zeit für die Firma, in der mittlerweile 48-Stunden-Wochen keine Seltenheit mehr sind. Und außerdem verdienen Eltern damit genug Geld für all die Frustkäufe, die solch ein Turboleben überhaupt erst erträglich machen.

Zugegeben, wir sind selbst auch mit schuld. Das Mantra, dass nur hoch dotierte Erwerbsarbeit zähle, hat die gesamte Leistungsgesellschaft verinnerlicht. Arbeit ist der neue Sex, Burnout der Nachweis dafür, dass man sich richtig reingehängt hat. Wir leben im „Zeitalter der Aktivität“, höhnt Ulrich Renz in seinem Buch „Die Tyrannei der Arbeit“: „Passivität ist uns ein Greuel. Ein aktives Leben ist ein gutes Leben, hält uns außerdem noch schlank, fit und gesund. Ein passives Leben ist bäh, weil schwabbel und krank.“ Müßiggang, früher Distinktionsmerkmal des Adels, riecht heute nach Hartz IV.

Nicht einmal mehr Kindern ist Ruhe vergönnt. Der Perfektionswahn der Moderne erlaubt es nicht. Im Mutterleib bereits wird der Nachwuchs mit Mozart beschallt, in der Kita mit Englisch frühgefördert, später zusätzlich zum Schulstress (G8!) mit Nachmittagsprogramm wie Schach, Kunsttöpfern und Nachhilfe malträtiert. Lustig eigentlich, dass ausgerechnet jetzt, wo keiner mehr zu Hause ist, Kochshows und Gartentraum-Magazine wie „Landlust“ florieren.

65% der Eltern mit Kindern unter 16 Jahren haben das Gefühl, dass sie nicht allen Anforderungen gerecht werden.IfD Allensbach/Vorwerk

Wohin das alles führt, beschreibt der deutsche Film „Eltern“ so ehrlich, dass Schwangere, die wohl eine Komödie erwartet hatten, anschließend blass um die Nase aus dem Kino wanken. Natürlich ist das Au-pair-Mädchen im Film ein Totalausfall, während beide Eltern beruflich unabkömmlich sind. Selbstverständlich werden die herumgeschubsten Kinder erst bockig und dann immer trauriger. Und, na klar, das Paar kriegt sich bei der Frage, wer wann zuständig ist, ordentlich in die Haare.

Ganz ehrlich: So macht Familienleben keinen Spaß. Brigitte, ehrgeizige Mutter dreier schulpflichtiger Kinder, Halbtagsjob in einem Modeunternehmen, ist meist so müde, dass sie morgens nicht mal mehr aufstehen möchte. Ihr Mann hingegen fürchtet sich vor dem abendlichen Nachhausekommen. Ihn erwarten: überreizte Kinder, eine vorwurfsvolle Gattin und eine Menge unerledigter Punkte auf der familiären To-do-Liste. „Die glücklichen, entspannten Stunden“, sagt Brigitte, „sind bei uns die absolute Ausnahme.“

Als Buchautor Renz vor lauter Arbeit vergessen hatte, wie die Kuscheltiere seiner Kinder hießen, beschloss er, sein Leben zu ändern: „Ist doch Wahnsinn“, dachte er damals, „du verlierst den Kontakt zu deinen Liebsten, du weißt überhaupt nicht, was deine Kinder interessiert.“ Der Geschäftsführer eines Fachverlags schmiss die Stelle hin und verlegte sich aufs Schreiben. Das Einkommen, so Renz freimütig, sei gesunken. Die Lebensqualität gestiegen.

Erfolg und Effizienz sind es nicht, was Familien im Innersten zusammenhält. Es sind Empathie und Interesse füreinander, und dafür braucht man: Zeit. Noch fehlt es daran, wie Studien belegen. 77 Prozent aller berufstätigen Mütter, 73 Prozent aller Väter und knapp 60 Prozent aller Teenager wünschen sich mehr Zeit miteinander. Zeit zum Erzählen, zum Trösten, zum Nachfragen, Zeit für alles, was sich nicht zwischen Tür und Angel erledigen lässt und wofür man den anderen auch erst mal in Ruhe lassen muss.

Bei dem Versuch, alles anders zu machen als unsere Eltern, haben wir den Bogen womöglich überspannt. Die Generation junger Erwachsener aber, die heute in den Hörsälen sitzt, hat nach einer Studie der Uni Koblenz längst neue Vorstellungen von ihrem Leben. Selbst junge Männer würden heute eher eine klassische Karriere opfern als ihr Privatleben. Die alten Malocher scheinen abschreckend zu wirken. „Meine Eltern arbeiten wie die Bekloppten“, sagt etwa der 17-jährige Max, Sohn zweier Ärzte, „ich stell mir mein späteres Familienleben anders vor.“

Recht hat er. Die „Generation Y“ hat offenbar begriffen, dass das Versprechen der Machbarkeitsgesellschaft, jeder könne alles schaffen, eine Lüge ist. Man sollte sich von niemandem einreden lassen, Ehe, Kinder, Karriere, persönliche Entfaltung seien gleichzeitig zu haben. Alles bloß eine Frage der Organisation? Unsinn.

In Wahrheit alles eine Frage der Prioritäten. Man muss sich entscheiden. Die beruflich erfolgreichen Powerpaare haben dann eben weniger Zeit für ihre Familie. Der Hausmann, der die alleinverdienende Gattin gern unterstützt, riskiert eben die gleiche wirtschaftliche Abhängigkeit wie seine weiblichen Kolleginnen. Und die wenigen modernen Paare, die tatsächlich beide Teilzeit arbeiten, um mehr Zeit für sich und ihre Kinder zu haben, verzichten eben auf viel Geld. Von Karriere bei beiden erst mal keine Rede.

Jede Wahl hat ihren Preis. Manche, auch das gehört zur Wahrheit, haben keine Wahl. Alleinerziehende und all jene, die für ihre Arbeit schäbig bezahlt werden, beispielsweise.

In kleinen Schritten zu mehr Familienglück

  • Melden Sie sich im Büro nicht dauernd freiwillig für Überstunden. Überlassen Sie den kinderlosen Strebern höflich den Vortritt.
    Denn es soll sich endlich herumsprechen, dass Menschen mit Kindern gelegentlich Überstunden / Dienstreisen / Projekte ablehnen müssen. Es ist nicht unprofessionell, sondern zeugt von Selbstmanagement, mit seinen Kräften haushalten zu können.

  • Seien Sie nicht zu stolz, bei Freunden, Bekannten oder der netten rüstigen Dame von nebenan um Hilfe zu bitten. Das gilt besonders für Alleinerziehende. Wahrscheinlich brauchen wir überhaupt eine neue Idee von Gemeinschaft. Allein ist es nicht zu schaffen.

  • Denken Sie ruhig mal über ein Sabbatical nach. Wer sein Leben ändern will, braucht eine Verschnaufpause, um auf gute Ideen zu kommen.

  • Vielleicht gefällt Ihnen und Ihrem Partner plötzlich der Gedanke, dass Sie beide nur je 80 Prozent arbeiten. Das macht zusammen vier freie Nachmittage mit den Kindern.

  • Schrauben Sie Ihre Ansprüche herunter. Als Allererstes die an sich selbst. Wer verlangt eigentlich, dass Eltern in ihrem Leben genauso viel unterbringen wie damals, als die Kinder noch nicht da waren? Auch Selbstausbeuter müssen zugeben: Das klappt schon rein zeitlich nicht.

  • Lassen Sie sich nicht von den Ambitionen anderer kirre machen. Kinder müssen nicht immer Bestnoten nach Hause bringen. Für den höheren Schulabschluss sollte man keinen Dauerbesuch beim Therapeuten riskieren.

  • Ja, es ist statistisch erwiesen: Väter drücken sich gern um Hausarbeit. Belegt ist aber auch: Gerechte Aufgabenverteilung fördert den Familienfrieden! Kinder dürfen selbstverständlich auch mithelfen.

  • Werden Sie nicht nervös, wenn die Kinder mal mit nichts beschäftigt sind. Tun Sie es ihnen einfach nach.

Alle anderen aber sollten sich fragen, aus welchen Gründen sie im Hamsterrad des Alltags stecken. Und ob sie wirklich so viel schuften wollen, nur um sich noch mehr Zeugs zu kaufen, das kein Mensch braucht. Wer sagt eigentlich, dass Familien ihre Eier mit einem SUV vom Biobauern holen müssen? Vielleicht braucht der Neunjährige nicht unbedingt auch noch ein iPad. Und womöglich bekommt es der ganzen Familie gut, nicht in der Villa in Südfrankreich nach Ruhe zu suchen, sondern dort, wo sie viel zu selten die Seele baumeln lässt: zu Hause.

Sogar Ökonomen wollen Eltern früher heimschicken. Um Familien in der „Rushhour des Lebens“ zu entlasten, plädierte das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) soeben für eine 32-Stunden-Woche und fordert vom Staat „Elterngeld Plus“, eine Art Ausgleichszahlung.

Vielleicht rollt sie tatsächlich an, die Revolution gegen die Zumutungen einer familienfeindlichen Schneller-höher-weiter-Gesellschaft. Bis dahin steht jedem frei, stillvergnügt zu desertieren und endlich mehr Leben ins Leben zu lassen. Keine Bange, dafür muss man nicht einmal alles radikal über den Haufen werfen. Für den Anfang genügt es schon, sich täglich die neue Glücksformel aufzusagen: mehr Zeit = bessere Nerven = entspanntere Eltern + Kinder. Es lohnt sich, dranzubleiben an dieser Revolution der kleinen Schritte. Wir hätten dazu zehn Ideen.



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