Wundern & Wissen

Auf Traumreise zum Ich

Hypnose ist keine Hexerei: Sie wirkt schmerzlindernd, fördert die Selbstheilung und stärkt innere Ressourcen. Das funktioniert auch und gerade bei Kindern


Ich weiß genau, was du willst!“, ruft der kleine Junge zornig. „Du willst, dass ich das Diktat schreibe!“ Elke Hochenleitner lächelt. „Ja“, antwortet sie ruhig. „Das wäre toll. Was brauchst du denn dazu?“ „Du sollst mich zehn Minuten in Ruhe lassen!“, faucht das Kind.

Die innere Stimme ernst nehmen – das hat Elke Hochenleitner, Hypnotherapeutin mit einer Praxis in Fridolfing im bayerischen Landkreis Traunstein, in 25 Jahren Tätigkeit als Intensivschwester gelernt. Auf der kardiologischen Kinderintensivstation, unter anderem am Münchner Klinikum Großhadern, hat sie viele Kinder betreut und manche mit Hypnose begleitet. Zum Beispiel Kleinkinder, denen nach einer Beatmung der Luftschlauch gezogen werden musste. Während eine Ärztin das quälende Prozedere so behutsam wie möglich durchführte, sprach Elke Hochenleitner dann beruhigend auf die kleinen Patienten ein – die daraufhin zu weinen aufhörten und erschöpft einschliefen.

Die wundersame Wirkung der Hypnose wurde in über 200 Studien belegt

Die wundersame Wirkung der Hypnose wurde in über 200 Studien belegt, auch wenn der Mechanismus selbst immer noch Gegenstand von Spekulationen ist. Der besondere Tonfall aktiviert das Sprachzentrum im Gehirn, zeigen Scans. Vor allem dann, wenn es dabei um Bilder geht wie etwa: „Deine Hand wird leicht, wie von einem Ballon nach oben gezogen …“ Wie genau dies aber zu dem speziellen Trance-Zustand führt und was diesen ausmacht, ist noch nicht gänzlich geklärt.

Das Hineinführen in eine Hypnose ist der erste Schritt: Man nennt das „Induktion“. Die Betroffenen versinken in eine passive Ruhe. Diese Offenheit, sich von außen leiten zu lassen, macht den wesentlichen Unterschied zur Meditation oder gezielten Entspannung aus. Seit den ersten Tagen der Heilkunst spielt Trance eine wichtige Rolle: Schamanen öffneten mit ihren Ritualen das Tor zum Unbewussten, und die antiken Ärzte Griechenlands führten Kranke in den Tempel des Hypnos, des Gottes des Schlafes, wo sie der Überlieferung nach geheilt wurden.

„Sie haben dort in Trance ihre innere Wahrheit gefunden“, vermutet Elke Hochenleitner. Die Hypnose sei nichts anderes als eine „Art intelligente Kommunikation“: „Die Lösungen liegen alle in uns selbst, nur häufig bleiben sie unserem Bewusstsein verborgen.“ So war das zum Beispiel beim achtjährigen Sebastian*, der in der Schule gemobbt wurde und am liebsten gar nicht mehr hingegangen wäre. „Was bräuchtest du denn, um dich wieder sicher zu fühlen?“, fragte Elke Hochenleitner ihn unter Hypnose. „Einen Drachen“, sagte der Junge, ohne zu zögern, „einen, den die Mama mit mir macht.“ Gesagt, getan: Der kleine Plastillin-Drache, den Mutter und Kind später gemeinsam bauten, saß bald auf der Schulbank und vertrieb alle Feinde – durch das neu gewonnene Selbstvertrauen des Buben.

Es funktioniert auch, wenn ein Halbwüchsiger sagt: ,Was soll’n der Quatsch?‘Kinderarzt Raymund Pothmann

Die moderne Hypnose vermeidet jede Suggestion, obwohl auch diese in aller Regel funktionieren würde. Denn ob sich Menschen hypnotisieren lassen, hängt nicht von ihrem Willen ab. Etwa ein Drittel versinkt sehr schnell in Trance, ein weiteres Drittel braucht länger, um sich hypnotisieren zu lassen. Bei rund 30 Prozent klappt es nicht, selbst wenn sie es wollten. Kinder lassen sich umso leichter hypnotisieren, je jünger sie sind. Der Grund: Bis ins Grundschulalter hinein befinden sie sich noch ganz oder zum Teil in der Phase des „magischen Denkens“, in der sich Wunschdenken und Realität nicht immer klar trennen lassen. „Doch es funktioniert auch, wenn ein Halbwüchsiger sagt: ,Was soll’n der Quatsch?‘“, betont der Hamburger Kinderarzt Raymund Pothmann, der ein Schmerzzentrum für Kinder leitet.

Die therapeutische Ethik verbietet die Manipulation, die das spektakuläre Geschäft von Show-Hypnotiseuren ist – etwa, wenn sie Menschen auf der Bühne dazu bringen, zur Belustigung des Publikums wie eine Ziege zu meckern oder sich auszuziehen. Die Hypnose darf, so die Richtlinien der Fachverbände, nur das zutage fördern, was der Patient in sich hat.

 

Das kann lebensrettend sein, zum Beispiel beim zwölfjährigen Johannes*, der an Leukämie erkrankt war. Der Junge war hochmotiviert: „Ich gehe gesund nach Hause!“ und überstand die Infusionen der Chemotherapie gut. Doch als er danach die Medikamente schlucken sollte, erbrach er sofort. Die körperliche Untersuchung ergab keine Ursache, doch Elke Hochenleitner fand heraus, dass zwei Pflegerinnen den Jungen gedemütigt und eingeschüchtert hatten. In Hypnose konnte er sich gegen die Schwestern zur Wehr setzen und mit ihnen „abrechnen“. Danach, im Wachzustand, schluckte er die Medikamente ohne Probleme – und wurde gesund.

Eine besonders berührende Erinnerung hat die Hypnotherapeutin an einen Jungen, der leidenschaftlich Eishockey spielte, aber nach der OP an einem Hirntumor halbseitig gelähmt war: „Er hatte wahnsinnige Angst aufzustehen.“ Sie versetzte ihn in Trance und fragte ihn, was ihn stark machen würde. Die Antwort: seine Knieschoner. Und tatsächlich machte er im Schlafanzug mit imaginären Polstern seine ersten unbeholfenen Schritte. Später brachten die Eltern die ganze Ausrüstung in die Klinik, mit Knieschonern, Armpolstern, Helm, Schläger und Puck.

Hypnose verändert auch das Schmerzempfinden. Mit diesem Effekt arbeitet der Hamburger Schmerztherapeut Raymund Pothmann, wenn er zum Beispiel Kindern Blut abnimmt. „Ich streife den jungen Patienten einen ‚Zauberhandschuh‘ über, und in der Regel tut der Einstich dann nicht mehr weh.“

Hypnose kann sogar eine Narkose ersetzen. Im benachbarten Belgien wurden in den vergangenen 20 Jahren über 1800 Operationen auf diese Weise vorgenommen – von speziell ausgebildeten Narkoseärzten. Und im Amsterdamer Slotervaart Krankenhaus sind alle fünf Kinderärzte selbstverständlich in Hypnose ausgebildet. „Wir geben Kindern eine CD mit nach Hause, die Trance unterstützt“, sagt Ines von Rosenstiel, Chefin der Abteilung. „Während der OP hören sie dann dieselbe Aufnahme, und wir brauchen viel weniger Schmerz- und Narkosemittel.“

Die Fähigkeiten zur Selbstheilung sind dem Menschen angeboren, doch sie waren lange Zeit verschüttet. Die moderne Biomedizin hat diese Art von Therapien erst wiederentdeckt, als sie einzelne ihrer Parameter messen konnte: etwa die Botenstoffe des Organismus, die über psychische Vorgänge und das Nervensystem beeinflusst werden können. Nur langsam wandert der Fokus über die pathologischen Vorgänge in der Medizin auch hin zur Gesundheitsförderung.

Hypnose könnte auch in der Schule zum Einsatz kommen

Die ressourcenstärkende Funktion der Hypnose könnte auch in der Schule zum Einsatz kommen, meint Elke Hochenleitner. Sie hat deshalb mit einer befreundeten Lehrerin einen Versuch gemacht: ein Laufdiktat. Die Schüler mussten zu im Raum verteilten Zetteln rennen, sich den dort aufgeschriebenen Satz merken und dann, zurück an ihrem Platz, aufschreiben. Nach dem ersten Durchgang machte Hochenleitner eine Mischung aus Hypnose und Traumreise mit den Kindern: Sie versetzte sie in Trance und geleitete sie durch eine Fantasielandschaft bis zu einem Haus, in dem die Schreibfee auf sie wartete – und ihnen magische Schreibkräfte verlieh. Wieder in der Realität des Klassenzimmers angekommen, malten die Kinder ein Bild, das sie auf ihrer Traumreise gesehen hatten. Die Vision der inneren Stärke wurde so „geankert“. Als sie das Laufdiktat wiederholten, verbesserte sich der Notendurchschnitt von 2,8 auf 2,4. Der Freiburger Kinderarzt Marc Betz bietet Hochenleitners Konzept jetzt in Freiburg an einer Grundschule an.

Bei Jungs übrigens kommt die Schreibfee nicht immer gut an. Da braucht es manchmal den „wilden Mann“ mit seinem Schwert, um den Buchstabenwirrwarr zu zerschlagen. Der siebenjährige Nico hat ihn gemalt. Eigentlich wollte er partout nicht das tun, was die Lehrerin und die Hypnotherapeutin von ihm wollten. Doch nach zehn Minuten Auszeit hatte sich der „wilde Mann“ in ihm beruhigt, und Nico schrieb das bisher beste Diktat in seinem Leben.

 

*Namen von der Redaktion geändert



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