Gymnasium, nein danke: Schülerin lernt entspannt im Park – Magazin SCHULE
Denken & Diskutieren

Gymnasium? Nein, danke

Der Run aufs Gymnasium ist ungebrochen? Von wegen! Immer mehr Eltern suchen für ihre Kinder nach entspannteren Alternativen auf dem Weg zum Abitur. Waldorf-, Reform- oder Gesamtschulen sind heiß begehrt, auch Realschulen sind beliebt. Und das bisweilen sogar, wenn der Nachwuchs in der Grundschule zu den Besten gehört


Sophia geht auf eine Realschule. Es ist eine Einrichtung mit gutem Ruf, katholisch, reine Mädchenschule, beliebt unter den Eltern in der Umgebung. Aber eben nur: eine Realschule. Die elfjährige Sechstklässlerin hätte nach der ­Grundschule spielend aufs Gymnasium wechseln dürfen, doch ihre Eltern haben sich dagegen entschieden. Warum schickt jemand eine Viertklässlerin mit einem Schnitt von 1,66 auf die Realschule? Noch dazu in Bayern?

Sophia sei „sehr verträumt und verspielt“, erzählt Christine, die Mutter. Wie viele andere Eltern ­erfolgreicher Schüler unterstützten auch ­Christine und ihr Mann ihre Tochter nachmittags beim Lernen. Dabei haben sie früh festgestellt, dass Sophia nach einem langen Schultag „die nötige Power dafür fehlt“. Sophia malt lieber, geht auf den Spielplatz oder fährt Rollerblades. Christine hat sich trotzdem oft rechtfertigen müssen für diese Entscheidung. Dabei sind immer mehr Eltern auf der Suche nach einer Art „slow education“, einer Bildung also, die weniger Druck ausübt und Kindern mehr Zeit lässt.

Immer mehr Eltern sind auf der Suche nach einer Art ‚slow education‘

Auch die Eltern des elfjährigen ­Maximilian aus Düsseldorf haben trotz guter Noten für ihren Sohn die Realschule gewählt. In seinem Fall hatte die Grundschullehrerin vom Besuch des Gymnasiums abgeraten. Maximilian – einst auf Antrag vorzeitig eingeschult – könne es zwar schaffen, sagte sie, aber es werde ein Kampf.

Ein halbes Jahr wogen die ­Eltern des Jungen ab, tendierten mal für den direkten Weg zum Abitur, dann wieder dagegen. Als sie schließlich mitbekamen, dass eine Familie am selben Ort für ihr Kind, das auf dem Gymnasium nicht erfolgreich war, vergeblich einen Platz an einer Realschule suchte, stand für sie fest: Wir gehen kein Risiko ein. „Ich habe noch zwei andere Kinder“, erzählt Mutter Sonja, „da kann ich jedenfalls nachmittags nicht vier Stunden mit Maximilian lernen, damit er das Gymnasium auch sicher schafft.“

Alternativen zum Gymnasium: Klammheimlich dreht sich die Stimmung

Spricht sich langsam herum, dass sich auch ohne Gymnasium ­alles ­erreichen lässt? Besonders in Bayern, wo nur Grundschüler mit einem Schnitt von mindestens 2,33 in den Hauptfächern Mathe, Deutsch sowie Heimat- und Sachkunde problemlos zum Gymnasium wechseln dürfen, haben die Grundschullehrkräfte in der Vergangenheit oft geklagt: über Kinder, die blass und ohne Freude ­büffeln. Über ­Mütter, die angesichts der Note Drei in ­Tränen ausbrechen, und Väter, die mit dem Anwalt drohen. Über eine Gesellschaft, die Fami­lien ­glauben macht, die einzig selig machende Schulform sei das ­Gymnasium.

Eltern hoffen auf weniger Druck, mehr Zeit – und mehr Familienfrieden

Klammheimlich aber dreht sich die Stimmung. Als ­Christine ihre Tochter Sophia auf der Realschule an­meldete, traf sie dort etliche andere Eltern, deren Kinder ebenfalls Zeugnisse voller Einser und Zweier mitbrachten. Die Hoffnung der Eltern: weniger Druck für die Kinder, mehr Familienfreizeit, von Schule einigermaßen ungetrübter Familienfrieden.

Allerdings werden Realschulen selten. Die Schulreformmaschine ist in vollem Gang, die meisten Bundesländer schaffen die Haupt- und Realschulen ab oder haben dies bereits getan. Eltern, die das straffe Programm der Gymnasien abschreckt, interessieren sich daher verstärkt für ­Reformschulen wie Montessori- oder Waldorfschulen oder andere private Institute. Die ­Schülerzahlen steigen dort auch, doch die Plätze sind begrenzt. Viele erhalten eine Absage. Der Grund: Während der Staat im Wettbewerb um Lehrkräfte mit Ver­beamtungen lockt, fehlt es den Privatschulen an Pädagogen.

Vom Trend gegen die Turboschulkarriere profitieren die Gemeinschaftsschulen

Dafür hat die steigende Zahl der Eltern und Schüler, die sich bewusst gegen eine Turboschulkarriere am Gymnasium entscheiden, neuerdings eine immer populärer werdende Alternative: die sogenannten Gemeinschaftsschulen, die mehr als einen Bildungsgang anbieten. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler an solchen Schulen um 50 Prozent gestiegen, seit 2004 hat sie sich mehr als verdoppelt.

Allerdings: Nach bekannter Föderalismus-Manier heißt diese Schulform überall in Deutschland anders. Ob Stadtteilschule, Oberschule, Regionalschule, Integrierte Sekundarschule oder Erweiterte Realschule: Alle Schulen eint, dass nicht mehr nach Leistung getrennt wird, das heißt, die Lernenden werden nicht in unterschiedliche Gruppen aufgeteilt, sondern lernen im gleichen Klassenzimmer. Individuelle Förderung ist ein großes Thema, Noten in aller Regel nicht. Je nach Neigung können die Lernenden mit dem Hauptschulabschluss oder der mittleren Reife abgehen oder vielerorts gemeinsam bis zum Abitur bleiben.

Nicht jede Schule passt zu jedem Kind

Nicht überall gibt es freilich Gemeinschaftsschulen, und nicht überall, wo es sie gibt, sind Kinder und Eltern begeistert. Auf vielen Gemeinschaftsschulen arbeitet jedes Kind mit individuell erstellten Zielen im eigenen Tempo. Dort gibt es kaum Frontalunterricht. Die häufig geäußerte Kritik von Müttern und Vätern lautet, an den Schulen würden selbst jüngere Kinder wie Erwachsene behandelt und seien zu oft sich selbst überlassen. Nicht jede Schule passt zu jedem Kind. Tatsächlich sind Eltern gut beraten, sich am Ende der Grundschulzeit ihres Kindes die infrage kommenden weiterführenden Schulen genau anzusehen.

Im deutschen Schulsystem gilt: kein Abschluss ohne Anschluss

Die Eltern von Theresa haben das getan, zusammen mit ihrer Tochter. Beim Tag der offenen Tür an der Realschule waren alle begeistert von dem tollen Programm, der guten Stimmung, der Freundlichkeit und Kompetenz der Lehrkräfte. Die Entscheidung gegen das Gymnasium aber war da schon längst gefallen.

Bei einer Informationsveranstaltung zum Übertritt hatte sich Christine die Empfehlung eines Gymnasiallehrers zu Herzen genommen. Ein Kind sei reif fürs Gymnasium, so hatte der ­Pädagoge dem Plenum erklärt, wenn es ­seine Hausaufgaben selbst erledige, ­gerne lerne, ein gesundes Selbstvertrauen habe sowie geistig und emotional stabil sei. Ja, Sophia lernt gerne und auch selbstständig, aber nur, wenn sie etwas interessiert. Und nein, Sophia ist eher zurückhaltend, und schlechte Noten belasten sie. Warum also, so dachten die Eltern, sollen wir unser Kind dem Risiko des Scheiterns aussetzen? Warum ihm etwas zumuten, für das es noch nicht gewappnet ist? „Wir haben uns für unsere Tochter entschieden“, sagt Christine und ergänzt: „Kindheit lässt sich nicht nachholen.“

Kindheit lässt sich nicht nachholenChristine, Mutter von Sophia 

Und kann nicht schließlich jeder, der will und motiviert ist, das Abitur auch auf Umwegen schaffen? Das deutsche Bildungssystem ­bietet ­jedenfalls mehr Chancen, als ­viele ­meinen. In den meisten Bundesländern können Schüler und Schülerinnen ihr Abi beispiels­weise auch über die Fachoberschule (FOS) und/oder Berufsoberschule (BOS) ­erreichen, wenn auch in unterschied­lichen Zeiträumen.

Es gibt Aufbaugymnasien, die Schüler der Hauptschule ab der siebten oder achten bzw. Schüler der Realschule ab dem zehnten oder elften Schuljahr zur Hochschulreife führen. Zu den weiteren Möglichkeiten zählen unter anderem der Besuch eines Abendgymnasiums oder einer Fernschule. Zudem haben seit einigen Jahren auch Handwerksmeister das Recht zu studieren.

„Kann ich auf diese Schule gehen und trotzdem später Architekt werden?“, hatte Maximilian den Rektor seiner Realschule gefragt und von der Antwort abhängig gemacht, ob er ein Gymnasiast oder ein Realschüler wird. Seinem Berufswunsch stehe überhaupt nichts im Wege, hatte der Pädagoge versichert, solange er sich anstrenge. Auf der Schule läuft es für den Jungen aus Düsseldorf jetzt ebenso rund wie für Sophia aus ­München. Die Eltern beider Kinder sind sich ­allerdings einig: Auch auf der Realschule bekomme man „nichts geschenkt“.

„Gymnasium? Nein, danke – warum viele Eltern nach Alternativen zum Gymnasium suchen“ – Foto: Freepik



Unsere Themen im Überblick

Kommentieren