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Karriere ohne Studium – das geht!

Muss wirklich jeder Akademiker werden? Nein! Auch wenn Bildungspolitiker und OECD die Unis preisen: Noch nie bot die klassische Berufsausbildung so viele Chancen wie heute


Es ist nicht gut, wenn Eltern ihre Kinder in bestimmte Karrierepfade pressen wollen“, sagt einer, der sich mit Berufswegen auskennt: Frank-Jürgen Weise, Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit. „Verantwortungsvoll handeln sie, wenn sie ihre Nachkommen darin unterstützen, den für sie passenden Berufsweg zu finden.“ Und zwar egal, ob der zur Uni oder zur Karriere ohne Studium führt.

Welche Richtung jedoch immer mehr Eltern für ihre Kinder passend finden, zeigt einmal mehr der „Ländermonitor berufliche Bildung“ der Bertelsmann Stiftung: Danach ist die Bewerberzahl für berufliche Ausbildungen bundesweit seit 2007 von 756 000 auf 613 000 gesunken – ein Rekordtief und Minus von 19 Prozent. Auch die Zahl der Ausbildungsplätze ging zurück, allerdings nur um 13 Prozent. Die Schlagzeilen auf diese Zahlen: „Duale Berufsausbildung verliert an Bedeutung“, „Ausbildung unter Druck“ oder „Studium sticht Berufsausbildung immer mehr aus“.

Immer mehr junge Menschen studieren. Das ist politisch erwünscht. Aber es ist falsch

Tatsächlich hat sich die Studienanfängerquote seit dem Jahrtausendwechsel auf rund 60 Prozent fast verdoppelt. Das ist politisch durchaus erwünscht. Bildungspolitiker propagieren seit Langem eine höchstmögliche Akademikerquote – mit Erfolg: Die öffentliche Wertschätzung für die Berufsausbildung ist gesunken, immer mehr Eltern und Schulabgänger glauben, dass eine Karriere ohne Studium nicht möglich ist.

Doch das ist falsch – wenn man unter Karriere einen geistig, finanziell und individuell befriedigenden Berufsweg versteht. In kaum einem anderen Land der Welt haben beruflich Qualifizierte so gute Beschäftigungs- und Verdienstchancen wie in Deutschland. Die (Jugend-)Arbeitslosigkeit ist hierzulande so niedrig wie nirgends sonst in der EU. Dass das duale Berufsausbildungssystem dazu maßgeblich beiträgt, ist unbestritten, seine hohe Qualität wird weltweit bewundert. Die USA wollen es kopieren, China sowieso. Sogar von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die sonst keine Gelegenheit auslässt, akademische Berufswege zu preisen, wird Deutschlands Vorzeigeausbildungsmodell inzwischen gelobt. „Ich warne davor, in der Bedeutung von akademischer und nicht akademischer Ausbildung einen Unterschied zu machen, denn beide sind gleichermaßen wertvoll für unser Land“, mahnt Bundesarbeitsagenturchef Frank-Jürgen Weise in dem Buch „Karriere ohne Studium“.

Karriere ohne Studium – Magazin SCHULE ONLINE
„Karriere ohne Studium“ von Mario Müller-Dofel, Springer Gabler, 19,99 Euro

Ob Weises Appell fruchtet, hängt vor allem von den Eltern der Schulabgänger ab. Denn sie haben auf den Ausbildungsweg ihrer Kinder den größten Einfluss. Für Eltern ist jedoch weniger interessant, was „wertvoll für unser Land“ ist – sie haben einen möglichst erfolgreichen Berufsweg ihres Kindes im Blick. Dabei verstehen viele unter Karriere heutzutage vor allem ein „Höher, Schneller, Weiter“. Und der statistische Mittelwert verheißt, dass zum Beispiel ein Bachelor in Betriebswirtschaft mehr Einkommen und Status bringt als eine Ausbildung zum Koch.

Diese Denkweise ist nicht neu, aber heute weit mehr verbreitet als noch zu Lehrzeiten von Starkoch und Gastronom Tim Mälzer. Der beschreibt in „Karriere ohne Studium“ seine damaligen Erfahrungen so: „Ich war bei einem Freund, als seine Mutter kam und fragte, ob ich ein Kommilitone sei. Ich sagte, ich mache eine Ausbildung zum Koch. Woraufhin sie meinte, so etwas müsse es ja schließlich auch geben.“ Dünkel wie dieser ist für Azubis wie ein Schlag ins Gesicht.

Leidenschaft ist der Schlüssel zum Erfolg

Der Akademisierungswahn – dieses Wort prägte der renommierte Philosophieprofessor und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin – hat weitere Risiken und Nebenwirkungen. So beobachtet die Karriereberaterin Jutta Boenig, dass „vielen Kindern und Jugendlichen die Chance zur kreativen Selbstorientierung und inneren Ausgeglichenheit genommen wird, weil sie gesellschaftlichen und elterlichen Ansprüchen entsprechen müssen“. Sie bezweifle, „dass jeder junge Akademiker von heute wirklich ein Akademiker ist“. Das sehe man an den hohen Studienabbrecherquoten von im Schnitt 30 Prozent und den Klagen aus Wissenschaft und Wirtschaft über das enttäuschende Niveau vieler Hochschulabgänger. Für Boenig ist Leidenschaft der Schlüssel zum beruflichen Erfolg.

Dem stimmt auch der Psychologieprofessor und Berufseignungsdiagnostiker Heinz Schuler zu: „Auch wenn viele Eltern glauben, aus ihren Kindern könne alles werden – sie sollten genau hinschauen.“ Leider machten „viele junge Leute entgegen ihrer Interessen, was ihre Eltern von ihnen erwarten, und starten auch noch mit völlig falschen Erwartungen ins Studium“. Vom „passenden Weg“, den Bundesarbeitsagenturchef Weise anregt, kann da keine Rede sein.

 

 

Dem leidenschaftlichen Koch Mälzer ist solcher elterlicher Erwartungsdruck fremd. „Bei mir zu Hause hat niemand ein Studium von mir erwartet. Keiner hat je kritisiert, dass ich es gelassen habe“, erzählt er. „So war es immer in meiner Familie: Jeder macht, was er will, und wird akzeptiert.“

Karriere ohne Studium – aber mit Erfahrung

Akzeptiert wurde auch die Reiseverkehrskauffrau Wybcke Meier, die nach einer steilen Karriere ohne Studium heute Chefin des Kreuzfahrtunternehmens TUI Cruises ist. Sie sagt: „Ich höre oft, Studierende seien in Praktika überfordert.“ Da dränge sich doch der Gedanke auf, dass Touristikstudiengängen der Praxisbezug fehlt. Jungen Menschen, die in den Tourismus wollen, rät sie daher, „erst eine berufliche Ausbildung zu absolvieren und danach ein, zwei Jahre zu arbeiten, um schließlich vielleicht ein berufsbegleitendes Studium dranzuhängen“. So sehen es auch viele Personalchefs insbesondere mittelständischer Industrie- und Handwerksbetriebe: Praxisbezug ist Trumpf.

Wer seine Chancen nutzen will, muss in der Lage sein, mal die Richtung zu wechseln. Karriere ist mehr, als nur hierarchisch aufzusteigenWybke Meier, CEO von TUI Cruises

Praktisch veranlagten Schulabgängern bietet die deutsche Wirtschaft mehrere Hundert Berufe. Und die Chancen auf einen attraktiven Ausbildungsplatz steigen. Im Jahr 2015 blieben in Deutschland rund 40 000 Ausbildungsplätze unbesetzt – Rekord. „Ein weiterer Rückgang bei der Zahl der Azubis könnte in vielen Branchen einen Fachkräftemangel beschleunigen oder auslösen, weil zugleich geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen“, schreibt die Bertelsmann Stiftung im „Ländermonitor berufliche Bildung“. Schätzungen zufolge würden bis 2030 rund 10,5 Millionen Beschäftigte mit Berufsausbildung aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern schlagen seit Längerem so laut Alarm, dass mittlerweile sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) wieder für die duale Berufsausbildung wirbt. Konzerne, mittelständische und kleine Betriebe bewerben ihre Lehrstellen stärker denn je, professionalisieren ihre Ausbildungspläne und machen sie damit attraktiver. Die Firmen buhlen um Studienabbrecher, wollen Weiterbildungen für beruflich qualifizierte Mitarbeiter ausbauen, versprechen bessere Aufstiegsmöglichkeiten als bisher; sogar Auslandsaufenthalte während der Ausbildung werden jetzt möglich – alles, um wieder mehr junge, engagierte Menschen für das duale System zu begeistern.

So paradox es klingt: Gerade der Akademisierungstrend macht es immer einfacher, einen befriedigenden Berufsweg ohne Studium zu finden. „Wer seine Chancen nutzen will, muss vor allem in der Lage sein, mal die Richtung zu wechseln“, sagt TUI-Cruises-Chefin Wybcke Meier. „Starres Karrieredenken schränkt nur ein.“ Dies gelte für beruflich Qualifizierte und Akademiker gleichermaßen. Und sie erinnert daran: „Karriere ist mehr, als nur hierarchisch aufzusteigen.“ 

 

Fotos: Axel Griesch



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