Normale Schule – Magazin SCHULE ONLINE
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Schule ohne Schnickschnack

Wer etwas auf sich hält, schickt seine Kinder in eine Bildungseinrichtung für Hochbegabte, Sportskanonen, kleine Demokraten oder Sprachgenies. Unsere Autorin fragt sich: Gibt es eigentlich keine Schule für normale Schüler mehr?


Eine Kindergartenmutter fragt mich: „Wisst ihr schon, auf welche Grundschule ­Linus gehen wird?“ „Na ja, wahrscheinlich die, die bei uns um die Ecke ist, sofern die ­Betreuungszeiten zu meinen Arbeitszeiten passen, ist ja noch ein wenig hin“, entgegne ich verwirrt – immerhin wird unser Sohn erst in einem guten halben Jahr und nicht in drei Wochen eingeschult. Ich ernte entsetzte Blicke aller umstehenden Mütter, meinem Sohn wird mitleidig über den Kopf gestrichen. Ob ich mir denn gar keine Gedanken machen würde, welche Grundschule das Potenzial meines Sohnes am besten fördern würde und seinem Naturell am ehesten entspräche?

Der Sohn verweigert nach Grundschule Nummer drei weitere Hospitationen, er will lieber spielen. Ich
ehrlich gesagt auch

Plötzlich werden mir von allen Seiten Flyer diverser Grundschulen mit Schnupperterminen in die Hand gedrückt, es sei nun wirklich höchste Zeit, sich um die Auswahl einer passenden Schule zu kümmern. Vor mir liegt, das ahne ich langsam, eine Reihe von Schulbesuchen, ­möchte ich nicht ernsthaft das Kindeswohl gefährden. Woanders bliebe mir das vielleicht erspart, aber bei uns in Schleswig-Holstein wird das Sprengelprinzip nicht so streng angewandt wie in vielen anderen Bundesländern. Es gibt viele Möglichkeiten, sein Kind an einer anderen als der nächs­tgelegenen Grundschule anzumelden.

Also füge ich mich dem Trend und besuche brav verschiedenste Grundschulen, zunächst mit der kompletten Familie, dann immer häufiger allein. Der, den es am meis­ten angehen sollte, verweigert nach Grundschule Nummer drei weitere Hospitationen, er will lieber spielen. Ich ehrlich gesagt auch, aber ich möchte mir später nicht von meinem Sohn (oder von anderen Müttern) vorwerfen lassen, mich nicht gekümmert zu haben. Dadurch erhalte ich im Laufe der nächsten Wochen einen sehr umfassenden Eindruck von dem Angebot der Grundschulen im Umkreis von 30 Kilometern:

In der Umgebung gibt es alles – nur keine normale Schule

Die Grundschule in unserem Wohngebiet bietet bilingualen Unterricht ab der ersten Klasse an. Fünf Kilometer entfernt befindet sich eine Sportgrundschule (der lange Schulweg sollte für sportlich begabte Kinder kein Hindernis sein), zehn Kilometer in die andere Richtung und damit 20 Kilometer von meinem eigenen Arbeitsplatz entfernt befindet sich die Waldorfschule. Freunde von uns haben sich vor einem Jahr nach einem Tag der offenen Tür, einer Probe­woche für ihr Kind und einem Bewerbungsgespräch (!) mit Eltern und Kind für eine demokratische Grundschule in 25 Kilometern Entfernung entschieden: Die Kinder dürfen dort lernen, wann und was sie wollen.

Nach einem wahren Schnuppermarathon vermisse ich in dieser vielfältigen Schullandschaft nur eines sehr: eine ganz normale Schule. Die, in der man weder kleine Hochbegabte noch Frühdemokraten noch Sportgenies fördern möchte, sondern in der schlicht und ergreifend das Durchschnittskind lesen, schreiben und rechnen lernt, was mir im Übrigen in meiner Kindheit an meiner normalen Grundschule durchaus gelungen ist.

Früher ging es doch auch ohne Kennenlerntage

Kaum habe ich mein eigenes Kind an einer Schule angemeldet, sehe ich mich auf der anderen Seite wieder. Ich, die Lehrerin, erkläre einen Samstagvormittag lang Viertklässlern und ihren Eltern, was meine Arbeitsstelle, ein Lübecker Gymnasium, im Allgemeinen und Besonderen zu bieten hat. Als ich selbst als Schülerin vor 25 Jahren auf die weiterführende Schule wechselte, gab es weder Kennenlerntage für die zukünftigen Fünftklässler noch Informationsabende für die Erziehungsberechtigten ein halbes Jahr vor der Einschulung.

Die Lage ist als Kriterium wohl nur noch für den Hauskauf zulässig

Meine Eltern wählten die Schule nach einem Kriterium aus, welches heute nur noch für den Hauskauf zulässig ist: der Lage. Das spiegelte sich auch im Schulnamen wider: Gymnasium Scharnebeck. Meine alte, normale Schule gibt es immer noch, bezeichnenderweise aber nicht mehr den Namen. Es wäre schließlich viel zu profan, wenn eine Schule einfach nach dem Ort hieße. Nach Möglichkeit sollte der ­Schulname oder zumindest der Zusatz bereits Hinweise auf die Art der Schule geben wie Sportgymnasium, Schule mit Musikzweig, Montessori-Schule usw. Die Schulen wollen sich profilieren, und das zeigt sich nicht nur in der Umbenennung von „Leistungskurs“ in „Profil“. Eine normale Schule zu finden ist verdammt schwer geworden, scheint aber auch zunehmend weniger im Interesse der Eltern zu sein.

Immer häufiger werde ich bei unserer Vorstellungs­veranstaltung von Familien nach den verschiedensten Spezial­angeboten gefragt. Eine Mutter möchte wissen, wie es denn bei uns an der Schule mit dem Musikunterricht aussehe, das Kind solle ja nicht umsonst jahrelang an der Musikschule Klavier gelernt haben. Ich erkläre bereitwillig unseren Musikzweig. Ein Vater mischt sich ein, sein Kind sei auf eine Grundschule mit sehr sportlicher Ausrichtung ­gewesen, es wäre doch ein Jammer, wenn das nun nicht weiter gefördert werden würde. Ich verweise auf ein ­Gymnasium unserer Stadt mit entsprechendem Angebot. Nun fragt ein weiterer Vater, der, wie er ausführlich erklärt, im IT-­Bereich arbeitet, wie es denn mit multimedialem Unterricht bei uns aussehe. Ich zeige ihm Computerräume, ­Beamer, Whiteboard sowie Netbook-Wagen und erläutere ihm, auf welche Weise welche Geräte zum Einsatz kommen.

Die Erwartungen der Eltern, sie sind halt auch nicht normal

Anschließend bestürmt mich eine Mutter, ob denn bei uns Englisch auch in einigen anderen Fächern gesprochen werde, ihre Tochter sei das von der Grundschule so gewohnt. Zum Glück habe ich als Mathelehrerin unser Lehrwerk für die fünfte Klasse parat, in dem aus einem mir bislang unbekannten Grund die Rechenanweisung abwechselnd auf Deutsch, Englisch oder Französisch zu lesen ist. Zudem kann ich ein weiteres Gymnasium in der Nähe erwähnen, in dem verschiedene Fächer wie Geografie auf Englisch unterrichtet werden (mich selbst hat in meiner Schulzeit die Entstehung von Tag und Nacht bereits auf Deutsch komplett überfordert, und ich bin meiner ehemaligen Schule sehr dankbar, dass mein Erdkundelehrer nicht Englisch als Zweitfach hatte). Zu guter Letzt interviewt mich ein Elternpaar, das multi­medialen Unterricht auf Englisch einfordert, gern dürfe der Lerninhalt auch mal musikalisch aufbereitet sein, und zur Förderung der Konzentration sei ausreichend Sportunterricht kombiniert mit Tanzstunden wünschenswert.

Als Lehrerin wäre ­ich sogar bereit, einen Merksatz zu singen und ­vorzutanzen – wenn es der ­Erkenntnis dient

Ich recke mich und rede laut und deutlich, sodass mich alle Anwesenden im Raum verstehen können: „­Guten Tag, liebe Eltern und Kinder. Mein Name ist ­Martina ­Hagemann. Ich unterrichte an dieser Schule Mathematik und Bio­logie. Wo immer es sinnvoll ist, verwende ich moderne ­Medien. Hin und wieder erhalten die Schüler in Biologie Ausschnitte eines Originaltexts auf Englisch oder sehen ein englischsprachiges Video, wenn es dem Erkenntnisgewinn dient. Sollte es nötig sein, wäre ich sogar bereit, einen Merksatz zu singen und vorzutanzen. Ansonsten gibt es bei mir mal sehr gute und auch mal sehr durchschnittliche Stunden. Ich bin einfach eine GANZ NORMALE Lehrerin und erteile GANZ NORMALEN Unterricht!“ Die anwesenden Eltern schauen mich überrascht an, und ich sehe es in ihren Blicken: Die Schule ist ja so weit wirklich in Ordnung, nur die Lehrerin da vorn, die ist irgendwie nicht ganz normal …

 

Normale Schule – Schule ohne Schnickschnack – Illustration: Alexander Aczel



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