Kennen & Können

Rechtschreibung schwach?

Auch der Fehlerteufel hat sein Gutes: Falsch geschriebene Wörter verraten Eltern und Lehrern, woran es hapert und welche Regeln das Kind üben sollte


Die frei geschriebenen Anfangsversuche von Erst- und Zweitklässlern sind rührend, ohne Zweifel. Wer sie mit strengem Blick betrachtet, wird allerdings erschrecken: Oft reiht sich Rechtschreibfehler an Rechtschreibfehler. Entspannte Mütter und Väter schmunzeln und hängen das Briefchen an die „libe Mama“ an den Kühlschrank. Andere Eltern fragen sich hingegen, was um Himmels willen nicht mit ihrem Kind stimmt. Es wird doch keine Lese-Rechtschreib-Schwäche entwickeln? Sie machen sich ernsthaft Sorgen, achten noch mehr als bisher auf Fehler, machen.

Aus Fehlern lernen die Kinder, sie sind notwendig Rosemarie Köhler, TU Braunschweig

„Genau die falsche Reaktion“, meint Rosemarie Köhler. Die Grundschul- und Förderschullehrerin schöpft aus der Erfahrung von 30 Jahren Unterricht und bildet inzwischen Lehrer an der TU Braunschweig fort. Ihre feste Überzeugung: „Aus diesen Fehlern lernen die Kinder, sie sind notwendig.“ Wie sie halten viele Experten Rechtschreibfehler für eine Chance, durch die Kinder ein unbewusstes inneres System für richtige Schreibweisen entwickeln. Nur so müssen sie später nicht bei jedem Wort neu nachdenken, wie man es schreibt.

Der Prozess des „Schriftspracherwerbs“, wie Fachleute das Schreibenlernen bezeichnen, entwickelt sich über Jahre hinweg. Er beginnt bereits im Kindergarten und endet noch lange nicht nach der zweiten Klasse. Die moderne Forschung hat drei Phasen ausgemacht, während derer gehörte Laute mit bestimmten Strategien in Geschriebenes umgesetzt werden.

In der ersten, der „logografischen“ Phase schreiben Kindergarten- und Schulkinder meist nur wenige Buchstaben und Wortgerippe. Wörter erfassen sie noch als Einheit, ähnlich einem Logo, sie malen sie mehr oder weniger. In dieser Phase entwickeln die Kinder ein Bewusstsein für unterschiedliche Laute und Silben, etwa beim Singen, Silbenklatschen oder Reimen.

Regel oder Ausnahme? Eine kleine Statistik der langen Vokale

  • Das lange a wie in „malen“ wird zu 90,9 % mit einfachem a geschrieben: „Hase“, „schlafen“. Nur zu 7,5 % ist die Schreibweise ah richtig: „lahm“, „Zahl“.  Wörter mit aa kommen zu 1,5 % vor: „Paar“, „Waage“. Ein kurzes a wie in „falsch“ verschriftet man immer mit a.

  • Das lange E wie in „Esel“ wird zu 85,7 % mit e verschriftet: „lesen“, „reden“. Das eh kommt nur zu 12,7 % vor: „mehr“, „sehr“. Und das ee nur zu 1,6 %: „Beere“, „Meer“. Solche Ausnahmen prägen sich Kinder am besten als Wörtergruppe ein.

  • Das lange i wie in „Wiese“ fällt aus diesem Schema heraus, es wird zu 72,1 % mit ie geschrieben: „die“, „Liebe“. Zweithäufigste Schreibweise ist mit 17,6 % ih: „ihre“, „ihnen“. Es folgt zu 8,9 % das einfache i: „mir“, „dir“. Und zuletzt mit 1,4 % ieh: „ziehen“, „wiehern“.

  • Das lange O wie in „Obst“ wird zu 89 % mit einfachem O geschrieben: „Oma“, „Ofen“. Ausnahmen sind mit 10,8 % oh: „ohne“ und mit nur 0,2 % oo: „Moor“. Das kurz gesprochene o wie in „Sonne“ wird immer mit o geschrieben. Der kurze O-Laut klingt anders: „offen“ und „Ofen“.

  • Das lange u wie in „Hut“ ist einfach zu merken. Zu 96,1 % gilt die Schreibweise u: „nur“, „Buch“. Zu 3,9 % kommt uh vor: „Uhr“, „Buhmann“. Das kurz gesprochene u wie in „Mund“ unterscheidet sich ebenfalls vom Langvokal u, wenn auch nicht ganz so deutlich.

    (Quelle: „Der orthographische Fehler“ von Katja Siekmann und Günther Thomé; Isb Institut für sprachliche Bildung 29,90 Euro)

In der zweiten, der alphabetischen Phase können Kinder gehörte Wörter bereits in einzelne Laute zerlegen. Diese Laute übersetzen sie in Schrift. Das funktioniert gut, solange die Wörter lautgetreu sind, wie „Oma“, „ich“ oder „du“. Doch bei „Schuhe“ oder „Hand“ hilft die alphabetische Schreibstrategie nicht weiter. „Schue“ und „Hant“ wäre nämlich das korrekte Ergebnis der lautgetreuen Verschriftung – leider falsch.

Um „Schuhe“ und „Hand“ richtig zu schreiben, bedarf es der dritten, der orthografischen Phase. Hier lernen Kinder, Rechtschreibregeln anzuwenden, zunächst bewusst, später unbewusst. Um zum Beispiel „Hand“ richtig zu schreiben, bilden sie zunächst die Mehrzahl: „Hände“. „Hände“ wird lautgetreu mit d gesprochen und verschriftet. Folglich wird auch das Einzahlwort „Hand“ mit d am Ende geschrieben.

Anders beim Wort „Schuhe“. Das silbentrennende h ist beim Sprechen nicht zu hören. Kinder müssen die richtige Schreibweise aus ihrem Langzeitgedächtnis abrufen oder bewusst eine Rechtschreibregel anwenden: Das h in „Schuhe“ trennt die beiden Vokale u und e, das Wort „Schue“ wäre schwer zu lesen.

Gute Rechtschreiber schreiben intuitiv richtig. Der Grund: Es ist einfacher, das Langzeitgedächtnis zu aktivieren, als eine Regel korrekt anzuwenden. Das Gedächtnis meldet nämlich sofort, wenn das geschriebene Wort nicht mit der Erinnerung übereinstimmt, das Wort sieht dann seltsam aus.

Stärken und Schwächen bei der Rechtschreibung zeigen sich früh. Bereits bei Vierjährigen lassen sich 52 Prozent der Rechtschreibleistung am Ende der 1. Klasse vorhersagen, ergab eine Studie der Universität Hildesheim im Jahr 2013. Die Prognose ändert sich zum sechsten Lebensjahr nur unwesentlich. Von tatsächlicher Legasthenie sind in Deutschland mindestens 5 Prozent aller Kinder betroffen.

„Kinder mit einem erhöhten Risiko für schwache Rechtschreibung können heute frühzeitig erkannt und gefördert werden“, lautet das beruhigende Fazit von Claudia Mähler, Leiterin der Hildesheimer Studie. Aktuell erprobt das Team der Psychologin verschiedene Trainings, mit denen Risikokinder Gehörtes und Laute besser verarbeiten und ihr Arbeitsgedächtnis stärken können. Beides ist wesentlich für den Schreiblernprozess, wie die Gehirnforschung bestätigt.

Sinnvoll sei es, Erstklässler generell nur lautgetreue Wörter schreiben zu lassen, meint Günther Thomé von der Goethe-Universität Frankfurt. Mit der Oldenburger Fehleranalyse hat der Sprachwissenschaftler ein Verfahren entwickelt, das den individuellen Rechtschreibstand eines Schülers analysiert, um ihn gezielt fördern zu können. Legasthenie-Therapeuten wie die Allgäuerin Kerstin Gemballa nutzen es für ihre Therapie und analysieren damit den Leistungsstand – vor dem Training und danach. Auch, um ihren Schützlingen ein ersehntes Erfolgserlebnis zu bescheren: „Ja, ich werde besser!“

Auch für Grundschullehrer sind Rechtschreibfehler bisweilen sogar hilfreich: Sie erkennen an den falsch geschriebenen Wörtern genau, welche Schreibstrategien das Kind verwendet und welche noch nicht. Manchmal werden mit Einführung des Dehnungs-h im Schulunterricht plötzlich Wörter falsch geschrieben, die vorher kein Problem darstellten: „Mama“ wird zu „Mamah“ oder „Biene“ zu „Bihne“. Die neue Rechtschreibregel und das Langzeitgedächtnis gehen in einen Wettstreit, die neue Regel wird übergeneralisiert – so passieren Fehler. Sie geben allerdings Grund zur Hoffnung: Das Kind hat eine Regel verstanden – und macht Fortschritte. l Sigrid Leger



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