Wundern & Wissen

Bis einer heult

Konflikte gehören zum Leben – aber Dauerzoff im Kinderzimmer verunsichert irgendwann die stabilsten Eltern. Wie viel Streit ist normal, wann sollen Väter und Mütter einschreiten?


Irgendein Geschrei, dann: Türenknall, Schritte poltern davon. Ich zähle bis drei. Wieder Schritte, Tür auf. Noch mal Geschrei. Ich zähle bis sechs. Erneut Türenknall, Geschrei, Gepolter. Ich zähle bis zehn. „Mamaaaaa!“

Die Jungs haben sich mal wieder in der Wolle. Was soll ich tun: Streitpolizei spielen oder mich fein raushalten? Kein Erziehungsthema hat mich, seit ich Mutter bin, so beschäftigt, wie die Frage nach dem richtigen Verhalten bei Geschwisterstreit. Meine Jungs sind 14 und zwölf Jahre alt, 20 Monate auseinander.

Eine Superidee, dachten mein Mann und ich damals: Die können doch toll zusammen spielen, haben immer einen an ihrer Seite. Ja, stimmt. Aber eben auch zum Streiten. Und man kann ihnen nicht vorwerfen, diesen Bonus nicht ausreichend genutzt zu haben.

Meinungen dazu gab es von allen Seiten frei Haus. „So sind Kinder eben“ war der Klassiker. „Ach, lass sie doch, die kriegen sich schon wieder ein!“ ein anderer. Mein Vater, häufig zu Besuch, lehnte sich im Angesicht der Streithammel gern zurück und erzählte Anekdoten von früher, wie er sich mit seinem Bruder die Köpfe eingeschlagen hat. „Ohrfeigen haben wir uns gegeben!“ Klar, wie sich das gehört unter Brüdern. Immer feste druff. Pazifistisch veranlagt, wie ich bin, ging ich aber (fast) immer noch rechtzeitig dazwischen, bevor meine Jungs sich gegenseitig Legokisten oder wahlweise auch Pflastersteine über die Birne zogen. Und rief noch mal laut zum Mitschreiben: „Hier wird nicht gehauen! Schlagen ist verboten!“

Schreien, weinen, motzen – Geschwisterstreit, vor allem in täglicher Dosis, kann ein Folterknecht für die ganze Familie sein. „Geschwisterstreit ist ein häufiges Problemthema unserer Beratung“, sagt Ulrich Gerth, Vorsitzender der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung in Fürth. „Viele Eltern wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.“

Streit, so der Experte, sei grundsätzlich erst mal nichts Schlimmes. Im Gegenteil: „Er ist wichtig für die persönliche Entwicklung.“ In der Auseinandersetzung lernen Kinder, die eigene Haltung auszudrücken, sich für Überzeugungen stark zu machen, aber auch Lösungen und Kompromisse zu finden, zu entdecken, dass andere Menschen andere Befindlichkeiten und Wünsche haben und es auch diese zu berücksichtigen gilt. „Dazu gehört auch die Erfahrung, wie es ist, mal übers Ziel hinauszuschießen“, sagt Gerth. Was passiert dann mit mir und dem anderen? Welche Gefühle löse ich aus? Wut, Enttäuschung, Traurigkeit?

Gründe für Streitereien gibt es gerade unter Geschwistern jede Menge: Rollenkämpfe, Neidgeschichten oder Besitzklärungen. Manchmal müssen Bruder oder Schwester auch einfach herhalten, weil es in der Schule doof gelaufen ist und der Frust sich ein Ventil sucht. Gerth empfiehlt Eltern, sich nicht grundsätzlich einzumischen, wenn Zwistigkeiten auftauchen: „Gehen Sie davon aus, dass es für den Streit einen Grund gibt und die Kinder das Problem selbst lösen werden.“ Oft genug sei das – selbst wenn es lautstark zur Sache geht – auch der Fall. Für genervte Eltern hilft hier nur eine eigene Strategie: Ohren auf Durchzug stellen und Türen schließen. Oder offen sagen: „Könnt ihr euren Kram woanders regeln? Das ist mir hier zu laut!“

Doch die Akzeptanz hat Grenzen: „Eltern müssen der Streitkultur ihrer Kinder einen Rahmen geben“, sagt Erziehungsexperte Gerth. Damit ist zum einen gemeint: einschreiten, wenn es zu heftig wird. Der Bruder, der mit Spielzeug, Tassen oder Tellern wirft, muss gestoppt werden. Ebenso tabu: Beleidigungen und Prügeleien. „Eltern dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn der Bruder seine Schwester an den Zöpfen zieht. Hier gilt es, den Geschwisterstreit sofort zu beenden und den Kindern ihr Fehlverhalten aufzuzeigen“, sagt der Experte. Das gilt auch bei älteren Kindern, deren Munition die scharfe Zunge ist: „Der Streit sollte nicht respektlos werden oder durch subtile Vorwürfe verletzen.“

Immerhin kann man faires Streiten üben. Wenn Diskussionen ausufern, Tränen kullern und Verletzungen entstanden sind, ist es wichtig, eine Streitpause einzulegen. „Schicken Sie die Kinder auf ihr Zimmer, damit sich die Nerven beruhigen“, rät Gerth. Mit ein wenig Abstand könne dann über den Streit gesprochen werden.

Was war da los? Besonders bei immer wiederkehrenden Konflikten ist es sinnvoll, einmal genauer auf die Ursachen für den Geschwisterstreit zu schauen. Fühlt sich vielleicht ein Kind benachteiligt? Wichtig dabei: beide Kinder aussprechen lassen, Gefühle ernst nehmen und möglichst kein Schiedsrichter oder Besserwisser sein. „Richten Sie als Elternteil lieber den Blick nach vorn, und fragen Sie Ihre Kinder, wie es ihrer Meinung nach in Zukunft besser laufen könnte.“

Dass Streiten zum Leben dazugehört und die Welt nicht untergeht, wenn man sich mal blöd findet, lernen Kinder vor allem am Vorbild der Eltern, so Erziehungsberater Ulrich Gerth: „Versöhnen Sie sich nach einem Streit vor den Augen der Kindern, zeigen Sie, dass Probleme gelöst werden können. Das ist die beste Streitschule.“



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